Teil I: Die Stunde Null, 2. Kapitel

"Ich
dürfte noch dreißig Minuten Zeit haben! Ich muß doch
nur noch diesen letzten Übergabebericht zu Ende schreiben!"

Der
schrille Ton ist keine Absicht. Ich wollte mich bis zum allerletzten
Augenblick beherrschen. Sachlich und professionell bleiben. Kann ich
aber nicht. Der Abschied naht. Ich schreite unweigerlich dem Ende
meiner Karriere entgegen. Ich komme mir vor, als ob ich im Sterben
läge. Ich weiß, daß es nicht mehr lange dauert. Ich
weiß, daß mit allem, das ich mein Leben nannte, bald
Schluß ist. Ich stehe wehrlos vor dem Unerbittlichen, dem
Unbekannten.

"Frau
Dr. Olivetti?"

Den
beiden bewaffneten Herren, die mich hierher begleitet haben, gehört
die Stimme auf keinen Fall. Das ist Julia.

"Kommen
Sie bitte rein."

Unsicheren
Schritts betritt sie das Büro. Ihre Augen sind errötet, und
ich sehe Tränenspuren. So merke ich erst, daß auch von
meinen Augen Tränen fallen.

"Frau
Dr. Olivetti…"

"Nennen
Sie mich doch ruhig Andrea", lache ich, "Wie oft muß
ich das sagen?"

"Ich
weiß, ich weiß. Es tut mir leid."

Ich
zeige erbittert auf die Urkundenwand. "Doktor bin ich eh nicht
mehr."

"Also…"

Ich
erinnere mich an den Text, den ich ausgehändigt bekam. "Bevor
wir weiterreden, bin ich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß ich
nicht mehr als Rechtsanwältin zugelassen bin. Deshalb darf ich
Sie weder in Rechtsfragen beraten, noch Ihre Rechtsangelegenheiten
besorgen. Eine Vertretung ist ebenfalls ausgeschlossen."

"Nicht
mehr zugelassen? Wieso? Was soll das heißen?"

"Es
gibt kein Wieso. Jede Rechtsanwältin in der Republik sagt ihren
Mandanten heute vermutlich dasselbe. Wir sind kraft Gesetzes von der
Rechtspflege ausgeschlossen."

"Was
soll das denn heißen?"

Ich
kann mich kaum dazu bringen, es auszusprechen. "Jede Frau, die
in der Rechtspflege tätig ist, ist heute arbeitslos geworden."

"Die
Predigt…?"

So
nennen alle inzwischen die große Fernsehansprache unseres
geliebten Staatsoberhauptes, die vor ein paar Monaten ausgestrahlt
wurde. Auch damals, bevor er Staatsoberhaupt geworden war, trat er
dauernd im Fernsehen auf. An den Schwachsinn, der diesem miesen
Fettsack aus dem Schlund floß, hatten wir uns alle längst
gewöhnt.

"Unser
Land muß wieder zur Besinnung kommen", betet sie herunter,
"wir dürfen nicht mehr hinnehmen, daß die kostbarsten
Werte unseres Volkes geschändet werden. Wir dürfen die
naturwidrige Umverteilung der Rollen in unserer Gesellschaft nicht
mehr hinnehmen. Die Politik, die Medizin, die freien Berufe, die
Rechtspflege, die Wissenschaft, kein Bereich ist von diesem Wahnsinn
verschont geblieben. Das dürfen wir nicht mehr hinnehmen. Und
wir müssen es auch nicht." Je mehr sie sich dem Ende des
Zitats nähert, umso deutlicher ist ihrem Gesichtsausdruck
abzulesen, daß sie – wie wir alle – die wahre Bedeutung der
Rede erst jetzt begreift.

"Ja,
die".

"Aber
mein Prozeß…"

"Moment
mal. Nehmen Sie mir das wirklich nicht übel, okay? Ich darf mich
gar nicht mit Ihnen darüber unterhalten. Sie dürften gar
nicht hier sein. Wie sind Sie überhaupt reingekommen?"

"Durch
die Tür. Wie soll ich denn sonst reinkommen?"

"Die
beiden da draußen haben Sie nicht aufgehalten?"

"Welche
beiden?"

"Schon
gut. Die machen wohl Pause oder so."

Ich
nehme zwei Zigaretten aus meiner Handtasche und biete ihr eine an.
Sie nimmt dankend an. Ich gebe ihr Feuer und zünde mir dann
meine an.

"Wollen
Sie mir bitte endlich sagen, wie’s jetzt weitergeht mit meinem
Verfahren?"

Ich
seufze.

"Nun,
sagen Sie schon!"

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