Teil I: Die Stunde Null, 1. Kapitel

Irgendwann
ertappe ich mich dabei, meine Zulassungsurkunde verzweifelt
anzustarren.

So
wie’s jetzt steht, sieht das Teil ziemlich alt aus.

Wie
auch ich.

Ich
sehe auch verdammt alt aus.

Ich
darf mich jetzt nicht ablenken lassen. Nur eine Stunde Zeit habe ich
noch. Eine Stunde. Ich sehe mich in meinem…
ehemaligen…Büro
um. Irgendwie kann ich dieses Adjektiv nicht einmal innerlich
aussprechen.

Ehemalig.

Ehemals.

Ehe-
und Personenstandsgesetz

Jetzt
nicht, verdammt!
Eine Stunde
noch. Keine Sekunde mehr. Die Kerle nehmen’s haargenau.

Die
Aktenschränke sind längst abgeschleppt worden. Meine
Handakten habe ich zur Übergabe in Kartons verpackt. Bis auf
diejenige, die jetzt vor mir liegt. Ich mache den Ordner wieder auf,
und bemühe mich, endlich zur Sache zu kommen. Ich muß
diese Handakte – wie Hunderte andere – auf ihre Vollständigkeit
überprüfen, einen Übergabebericht verfassen, und
versiegeln.

Irgendwie
paßt es schon, daß ich mich zum Schluß gerade
dieser Akte zuwende. Die Mandantin werde ich
Julia H.
nennen. Mag meine Zulassung auch
erloschen sein – meine standesrechtliche Verschwiegenheitspflicht
darf ich nicht vergessen. Stand und Recht sind mir aberkannt worden.
Die Pflicht ist für mich jedoch nach wie vor verbindlich. Sie
ist so ziemlich das einzige, was mir von diesem Leben übrigbleibt.
Auch wenn sie mir alles andere nehmen – und sie sind schon vollauf
damit beschäftigt – werde ich mich meiner Pflichten stets
besinnen. Und sei es nur aus Trotz.

Noch
ein Blick auf die Urkundenwand. Zulassungsurkunde. Magistra.
Doktortitel. Auf jeder Urkunde steht in brauner Tinte gestempelt:
ERLOSCHEN gem. EPsG.

Sodann
wende ich mich wieder dem Bildschirm zu, um meine allerletzte
Amtshandlung als unabhängiges Organ der Rechtspflege hinter mich
zu bringen.

Übergabebericht


Mandantin:
Julia H.

Geburtsdatum:
03.11.75

Personenstand:
Ledig

Aktenbestand: 1
Ordner, 500 Seiten

Schwebende
Verfahren:

Unterhaltssache
./. Martin F. Az.: FG II 2025 6210

Kunstfehlersache
./. 25. BfSa Az.: BG IV 2023 99125

Vor
rund 5 Jahren wurde ich von Fr. H. beauftragt, sie in dem
Scheidungsverfahren gegen ihren damaligen Ehegatten Martin F. zu
vertreten.

Martin
heißt er natürlich nicht. Hier sollen nur die Schuldigen
namentlich erwähnt werden. Der ist zwar auch einer, aber sein
Name würde es jedem Interessierten ermöglichen, meine
ehemalige Mandantin zu identifizieren. Das darf auf gar keinen Fall
geschehen. Als sie zum erstenmal meine kleine Kanzlei in der
Stadtmitte betrat, war sie gerade erst aus dem Bezirkskrankenhaus
entlassen worden. Sie konnte mir kaum in die Augen schauen. Ihrem
Anblick war schon abzulesen, weshalb sie an dem Tag zu mir gekommen
war. Als ich sie bat, die Sonnenbrille abzunehmen, sah ich zwei
geschwollene, dunkelblau geschlagene Augen. Ihr linker Arm steckte im
Gips. Ein ganzes Jahr dauerte es, bis ich sie endlich von diesem
Soziopathen befreien konnte. Schadenersatz und einen großzügigen
Unterhalt sollte sie auch von ihm bekommen. Hat sie aber nicht.

Die
Ehe- und Personenstandsgesetzesnovelle durfte ich eigentlich nur
flüchtig durchblättern. In Wirklichkeit hätte ich sie
gar nicht lesen dürfen, aber ich habe so meine Beziehungen. Was
stand da noch zum Thema Ehescheidungen? Ach ja,

Die
Ehe ist nur durch den Tod eines Ehegatten zu scheiden. Alle vor dem
Inkrafttreten dieses Gesetzes rechtskräftig gewordenen
Scheidungen sind nichtig. Schwebende Scheidungsverfahren sind als
gegenstandslos zu verwerfen.

Welcher
Paragraph war das denn noch? Der erste, glaube ich. Ob sie auch schon
Bescheid weiß? Ob
er schon
Bescheid weiß? Daran will ich gar nicht erst denken.

Vergebens.
Fünf Jahre Arbeit sind einfach so gelöscht worden. Warum
überhaupt einen Übergabebericht verfassen? Es gibt gar
nichts zu übergeben. Die Scheidung ist erloschen. Damit ist auch
die Unterhaltssache gegenstandslos. Der Kunstfehlerprozeß gegen
den Rat für Schwangerschaftsabbrüche des 25. Bezirks ist
wohl auch kein Thema mehr. Dafür haben die Herren auch gesorgt.
Da die Scheidung nichtig ist, ist sie verheiratet. Da sie verheiratet
ist, gehen ihre Rechte auf Martin über. Im Klartext: Nur mit
seiner Einwilligung darf sie einen Vertrag schließen. Über
ihr Vermögen darf nur er verfügen. Im eigenen Namen klagen
darf sie erst recht nicht. Geht nicht mehr ohne die ausdrückliche
Einwilligung des Ehemanns. In ihrem Fall heißt das: Geht nicht.

Soviel
zum Thema Ehe. Selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, wäre
die Sache auch nicht anders. Nicht umsonst heißt es
Gesetz
zur Neuregelung des Ehe- und Personenstandsrechts.
Auch
den Abschnitt zum Personenstandsrecht konnte ich mir kurz anschauen.

Für
die Ledige wird ein Vormund bestellt. Zum Vormunde bestellt wird in
der Regel der nächste männliche Anverwandte in gerader
Linie. Sollten keine männlichen Anverwandten in gerader Linie
vorhanden sein, kann das Vormundschaftsgericht jeden männlichen
Staatsangehörigen, der das 30. Lebensjahr vollendet hat, und der
dem Gericht für das Vormundsamt geeignet erscheint, zum Vormunde
bestellen. Die Rechtsstellung der Witwen bleibt hiervon unberührt.

Das
gilt mir.

Es
klopft. Auch das gilt mir.

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