Teil I Die Stunde Null Kapitel 6

"Die
haben mich in der Dusche erwischt. Ich war splitternackt!"
protestiert Rosa McAlister, bis heute Sozia einer der mächtigsten
Großkanzleien in der Stadt.

"Ich
hatte Angst, du etwa nicht?"

"Ich
hatte keine Ahnung, was los war!"

"Hast
du vielleicht diese Riesenknarren nicht gesehn?"

"Was
soll das?" fragt eine andere.

"Du
Andrea!" kommt eine Stimme von hinten. Die Stimme gehört
einer etwa 35jährigen, die, dem $5000-Kostüm nach zu
beurteilen, es auch schon in einer dieser Riesensozietäten zur
Sozia gebracht hat. "Kommst du mal kurz?"

Gestern
noch hätte sie mich und meine Mandanten wie Verseuchte
behandelt.

"Was
gibt’s denn?"

"Es
hat sich rumgesprochen, daß du das neue EPsG gelesen
hast."

"Stimmt."

"Es
läuft hier gerade eine kleine Debatte, und womöglich
könntest du zur Klärung einiger Streitfragen beitragen,"
meint die neben ihr sitzende schick angezogene Kollegin. Ich kenne
keine von beiden. Nach ihren Namen frage ich auch nicht.

"Vielleicht.
Um was geht’s?"

"Also,
uns ist schon klar, daß unsere Aktiva, unser Vermögen auf
den gesetzlichen Vertreter übergeht. Aber was ist mit den
Passiva?"

"Also…"

"Ich
habe nämlich vermutet, daß auch sie auf den GV übergehen
und aus dem übertragenen Vermögen zu befriedigen sind.
Analog zum Nachlaß oder…"

"Aber
ich halte es für naheliegend, daß die Passiva einfach
gelöscht werden…"

"Aber
es muß doch einen wirksamen Gläubigerschutz geben! Es geht
hier schließlich um Milliarden."

"Also,
die Frage wurde meines Wissens nicht…" sage ich, ehe ich
wieder unterbrochen werde.

"Aber
es gibt ja viele Frauen, die keine Angehörigen haben, die die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen! Da sind Freiwillige
gefragt, und wenn das einen Vermögensnachteil bedeutet, wird
sich doch keiner melden…"

"Mensch,
deshalb sag ich doch, daß die Verbindlichkeiten nur in der Höhe
des übertragenen Vermögens befriedigt werden müßten!
Dann verliert der Vormund gar nichts."

"…explizit
geregelt…"

Ja,
andererseits kann es doch sein, daß er dann nur noch Mehrkosten
bekommt. Wer läßt sich denn freiwillig auf sowas ein?"

"Moment
mal!" das geht mir langsam auf die Nerven. "Wolltet ihr
denn nicht meine Meinung dazu hören?"

"Aber
sicher!" sagt die Frau, die mich hierher bestellt hat. "Klar
doch!"

"Wir
sitzen hier eingesperrt und total entrechtet, von irgendwelchen
bewaffneten Arschgeigen überwacht, und ihr wollt einen wirksamen
Gläubigerschutz und finanzielle Anreize für unsere Vormunde
gewährleisten? Wenn ich heute was gegessen hätte, würde
ich jetzt kotzen."

Während
ich wieder nach vorne gehe, wenden sich die beiden der Thematik der
schwebenden Verfahren zu.

"Mensch
Rogelia," sage ich bei meiner Ankunft, "hier wird’s
schlimm. Hinten läuft ‘ne Debatte darüber, wie die neue
Gesetzgebung die Interessen aller – außer uns – am besten
berücksichtigen kann. So darf’s nicht weitergehen."

"Ich
hab auch dran gedacht," seufzt Judith, "wollte nicht, aber
auf einmal konnte ich nur daran denken. Die Durchführungsverordnung
hab ich quasi selbst entworfen."

"Mal
herhören", rufe ich. "Keine von uns hat Widerstand
geleistet. Ist schon gut. Wir brauchen nicht weiter drüber
reden. Ihr müßt euch nicht deswegen schämen. Das
gehört jetzt der Vergangenheit an. Da wir schon mal hier
eingepfercht sind, sollten wir uns vielleicht überlegen, was wir
jetzt machen wollen. Wer mit der gegenwärtigen Situation
einverstanden ist, soll sich jetzt bitte melden. Wer sich gern
bevormunden und entrechten will lassen, bitte melden!"

Nicht
einmal Anna Koulakow meldet sich.

"Ein
ziemlich eindeutiges Ergebnis," lächelt Rogelia.

"Na
schön. Aber was sollen wir denn machen? Die haben doch schon
quasi gewonnen…"

"Wir
wollen uns doch nicht niederschießen lassen!"

"Streiken",
sagt Rogelia plötzlich, "Wir können streiken!"

Schweigen.

Nach
etwa einer Minute meldet sich Rosa McAlister zu Wort. "Vielleicht
ist es dir entgangen, Frau Professor, daß wir arbeitslos
sind. Welchen Sinn hat es denn bitteschön, das zu verweigern,
was sie uns eh schon verboten haben?"

"Weil
sie noch auf unsere Dienste angewiesen sind."

"Sollen
wir etwa ihre Steuererklärungen ausfüllen?" fragt sie
mit ihrem gewohnten Sarkasmus.

"Laß’
sie doch ausreden!" verlangt Angelika, deren Hauptaufgabe bis
gestern darin bestand, die Bildung von Gewerkschaften zu verhindern.

"Eigentlich
brauchen die uns mehr denn je," sage ich nach kurzem Überlegen.

"Aber
wozu denn?" wieder Rosa.

"Propaganda,"
erwidere ich, "Wir haben derzeit einen hohen Propagandawert."

"Es
gibt in dieser Stadt ungefähr vier Millionen Frauen. Die können
uns unmöglich an einem einzigen Tag alle hoppnehmen,"
erläutert Judith, die mir einen Schritt voraus ist.

"Stimmt
ja! Und heut hat mir doch ‘ne Mandantin ihre Ladung fürs
V-Gericht gezeigt. Sie muß erst nächste Woche erscheinen."

"Dann
sind wir eben die allerersten. Schön für uns!" Rosa
würde ich in diesem Moment am liebsten erdrosseln.

"Darf
ich vielleicht ausreden? Oder willst du doch einen konstruktiven
Beitrag zu dieser Diskussion leisten?"

Endlich
hält sie die Klappe.

"Na
also!" fahre ich fort, "wenn ich mich nicht gewaltig irre,
wird’s jede Menge Kameras geben. Wir sollen ins Fernsehen kommen."

"Nach
dem Motto: Heute wurden die ersten Frauen unserer Republik von
ihren naturwidrigen Rollen befreit. Im Vormundschaftsgericht freuten
sie sich sichtbar auf den ihnen gewährten Neubeginn unter der
väterlichen Obhut ihrer gesetzlichen Vertreter…"

"Genau",
pflichte ich Rogelia bei. "Der Text schreibt sich von selbst…"

"Klar.
Und wenn wir uns ohne Widerstand in die väterliche Obhut
begeben, werden sich die anderen wohl sagen, der Widerstand sei
eh zwecklos…"

"Oder
daß es vielleicht gar nicht so schlecht sein könnte, wenn
sogar wir uns anstandslos bevormunden lassen," so Juana.

"Daß
unser Verhalten für das der übrigen maßgeblich sein
wird, ist den Herren bestimmt ganz klar," meint Rogelia.

"Und
warum sollten sie auch mit Widerstand rechnen," fragt Rosa, die
es endlich begreift, "Bis dato haben wir schließlich gar
keinen geleistet!"

"Ich
hab ‘nen Mordshunger," ertönt es aus der Mitte des Zimmers.
Keine Ahnung, wer das gesagt hat.

"Halt
doch die Klappe", kommt eine andere Stimme. "Das hier ist
wichtig!"

"Daß
wir bestimmt schon seit achtzehn Stunden hier sitzen und gar nichts
zu essen bekommen haben, da scheißt du drauf, oder wie?"

Haben
die denn die Heizung eingeschaltet? Ist doch verdammt heiß
hier.

"Damit
wolln die…" Rogelias Stimme ist wegen des Fernsehlärms
und des inzwischen ganz laut gewordenen Streits kaum zu hören.

"Ruhe!"
schreie ich, "Ruhe jetzt, verdammt nochmal! Darf sie endlich zu
Wort kommen?"

Ich
muß das noch fünfmal sagen, ehe den beiden der Wind
ausgeht.

"Danke!",
sagt Rogelia, "Also, was ich sagen wollte ist, daß die
damit unsere Widerstandskraft schwächen wollen. Der Hunger, der
überfüllte Raum, die Hitze, die Schlaflosigkeit. Bis sie
uns endlich vorführen sollen wir gar keine Kraft mehr haben."

Jetzt
hören wieder alle zu.

Wie
bitte? Was ich als erstes gelesen hab? Kann ich beim besten Willen
nicht mehr sagen, ehrlich. Das ist ja viele Jahre her. Ach,
wahrscheinlich von meiner Mutter. Wie meinen Sie das? Was ich jetzt
gern lese oder als Kind? Ach so. Das wissen Sie bestimmt schon
längst. Meine Wohnung ist zweifellos gründlich durchsucht
worden. Na von mir aus. Simone de Beauvoir, Bakunin, Chomsky…es
wäre doch leichter, sie einfach aufzuschreiben. Ach, natürlich
nicht! Wer will denn schon in
Versuchung
geraten? Wär doch fürchterlich. Das war nur so
ein Vorschlag. Die Bibel? So’n Zeug les ich nicht. Na, weil’s doch
Schwachsinn ist. Für sowas hab ich keine…VERDAMMTE SCHEISSE.
Mensch, das tut weh. Schon gut. Versteh ich schon. Das ist ja
schließlich nicht das erste Mal…

Allgemeines
Schweigen. Alle denken darüber nach, was für Forderungen
wir geltend machen sollten. Keine Ahnung, was daran so schwierig sein
soll.

Angelika
Morelli steht auf, zieht sich ihr Kostüm zurecht, und redet so,
wie sie es vorher bestimmt vor Vorständen und Aufsichtsräten
getan hat.

"Ein
Vetorecht," kündigt sie schließlich an. "Wir
sollen ein Vetorecht in bezug auf die Vormundszuweisung fordern."

"Vielleicht
einfach ein Mitspracherecht. Damit wir dann auch Vorschläge
unterbreiten dürfen," meint noch so eine Konzernanwältin.

"Soviel
gleich auf einmal?" Den Sarkasmus kann ich mir einfach nicht
verbieten.

Rosa
entgeht er aber. "Wir wollen doch nicht zuviel verlangen. Eine
realistische Verhandlungsgrundlage muß geschafft werden."

Von
denen hätte ich wohl nichts anderes erwarten sollen.

"Immerhin
ein Anfang," sagt Rogelia diplomatisch.

"Über
ein paar Dinge sollten wir uns jetzt im Klaren sein," doziere
ich, "Erstens: Mit dieser Aktion setzen wir unsere Leben aufs
Spiel. Zweitens: Es gibt keine zweite Chance. Wenn sie unseren
Forderungen entsprechen, können wir nachher nicht zum Tisch
zurückkehren, wenn wir noch was verlangen wollen, also sollten
wir besser aufs Ganze gehn."

"Aber
müssen wir nicht zunächst einmal den Beweis erbringen, daß
wir bereit sind, vernünftig mit ihnen zu reden?"

"Bullshit
ist das," entfährt es plötzlich Anna, die seit
mehreren Stunden keinen Laut von sich gegeben hat.

"Über
dein Schweigen hatte ich mich doch so unheimlich gefreut!"
mault Rosa.

"Laß
sie reden," sage ich, und überrasche mich dabei selbst.

"Ich
kenne diese Leute, " fährt sie ohne ein Wort an mich fort,
"auf sowas werden sie nicht reagieren."

"Könntest
du das vielleicht ein bißchen ausführlicher erklären?"
fragt Judith.

"Ich
hab mit ihnen…für sie gearbeitet. Ich kenne sie besser als
jede andere hier. Ich weiß, was sie von Frauen halten."

"Vermutlich
nicht gerade viel", unterbricht sie Rogelia mit ihrem schiefen
Grinsen.

"Für
sie sind die…sind wir Kinder, wenn wir überhaupt als
Menschen gelten können, was ja unter denen umstritten ist. Wenn
wir ihnen beweisen wollen, daß wir vernünftig
verhandeln können, haben wir schon verloren…"

"…denn
für die sind wir ja per definitionem irrational,"
fügt Judith hinzu.

"Eben!
Und wir geben ihnen sogar Recht, indem wir nur geringfügige
Änderungen verlangen. Dann heißt es: Die haben selbst
zugegeben, daß sie Vormunde nötig haben. Sonst hätten
die die Abschaffung der Vormundschaft verlangt."

"So
seh ich das auch," pflichte ich ihr bei.

"Und
unser Publikum dürfen wir auch nicht vergessen."

Jennifer
hat recht. Wenn es uns gelingt, mit unserem Streik ins Fernsehen zu
kommen, werden wir zu Vorbildern einer Bewegung. Wenn wir mit
unseren Forderungen weniger als die vollständige
Wiederherstellung unserer Rechte verlangen, werden sich vermutlich
andere danach richten, und diese Ordnung akzeptieren. Wir müssen
ein klares Signal geben: NICHT MIT UNS!

Letzten
Endes stehen unsere Forderungen auf Servietten geschrieben, die
jemand in der Tasche gefunden hat. Irgendwie peinlich.

Die
Liste endet mit einem Aufruf zum Widerstand gegen alle Maßnahmen
"der frauenfeindlichen Verbrecherordnung". Einige haben
eine "neutralere" Formulierung gefordert – "Widerstand
gegen alle in den letzten Tagen erlassenen Rechtsvorschriften,
insbes. das neue Ehe- und Personenstandsgesetz, sowie alle vom
Ministerium für Nationale Wiederherstellung erlassenen
Verordnungen" – aber am Ende hat sich Judith mit ihrem Text
durchgesetzt.

Den
Text soll Anna vorlesen, die es gewohnt ist, vor Fernsehkameras
aufzutreten. Daß ausgerechnet sie diese Forderungen
befürwortet, wird bestimmt einen großen Eindruck machen.

Obwohl
ich mangels Armbanduhr keine genauen Angaben machen kann, ist es
bestimmt schon Mitternacht. Einige versuchen, wenigstens ein bißchen
zu schlafen, aber der inzwischen auf maximale Lautstärke
gedrehte Fernseher macht angemessenen Schlaf so gut wie unmöglich.

Ich
habe inzwischen Hungerschmerzen. Die Wirkung der
Meditationstechniken, die ich für Hungerstreiks gelernt habe,
hält sich in Grenzen. Ist ja halt was anderes, wenn der Hunger
nicht auf einem freien Willensentschluß beruht. Da hat das Gras
bestimmt auch nicht gerade geholfen.

Wie
kannst du denn Hunger haben? Du hast doch gerade eine Lasagna
gegessen. Mit Provolone, Mozzarella, Parmigiano, Basilikum und diesen
köstlichen hausgemachten Nudeln…

Verdammt,
das macht es noch schlimmer!

Anna
kommt zu mir rüber. Die Augen kann sie kaum aufhalten.

"Paß
ma auf," sagt sie nach mehreren Seufzern, "ich wollte dir
nur sagen, daß es mir leid tut…"

Anna
Koulakow entschuldigt sich? Es gibt doch noch Zeichen und Wunder!

"Ich
hätte dich nicht anspucken sollen. Und was ich über
dich…und deine Partei…so im Fernsehen gesagt hab…Das war
einfach…"

"
‘Horde randalierender Unweiber’ hab ich besonders gut gefunden,"
lächele ich.

"Das
war einfach total daneben. Und daß ich mich bei den Leuten
angebiedert habe,…daß es solche Auswirkungen hätte…"

"Schon
gut, schon gut. Ich hätte dich auch nicht so beschimpfen sollen.
Meine Wut habe ich auf die falsche Person ausgetragen. Du hattest
recht. Wir haben’s nicht verhindert…"

"Aber
ich hab diese Entwicklung aktiv begünstigt."

"Übertreib’s
doch nicht. Wenn du dich nicht zur Verfügung gestellt hättest,
hätten die bestimmt ‘ne andere gefunden, wenn auch nicht mit
deinem Talent."

"Ich
wünschte mir, ich könnte es alles wiedergutmachen, alles
rückgängig machen…"

"Wenn
du unseren Text so gut rüberbringst wie damals diese ganze
antifeministische Hetze, dann wirst du schon den Schaden
wiedergutgemacht haben."

Wir
schauen einander in die Augen, und denken uns dabei bestimmt
dasselbe:

Daß
ich ausgerechnet mit ihr gemeinsame Sache mache. Sachen gibt’s!

Nach
ein paar Minuten Schweigen sagt sie, "Ich glaube, ich weiß,
wie lange wir noch warten müssen…"

"Echt?"

"Ja.
Ich denke seit mehreren Stunden drüber nach." Gähnen.
"Also, die wollen sich bestimmt die höchstmögliche
Zuschauerquote sichern."

Ich
nicke.

"Adressaten
dieser ganzen Veranstaltung sind doch die Frauen, nich?"

"Klar."

"…die
eh schon den ganzen Tag zu Hause sein werden."

"Arbeiten
gehn tun die eh nicht mehr."

"…und
ohne Geld können die auch nicht einkaufen oder essen gehn."

"Genau."

"Deshalb
vermute ich, daß die Sendung gegen Mittag ausgestrahlt wird. Da
sind die meisten längst wach und trinken Kaffee im Wohnzimmer."

"Kann
gut sein."

"Noch
zwölf Stunden also. Wahrscheinlich ein bißchen weniger.
Wir müssen ja alle fernsehklar sein, und das dauert."

Noch
zwölf Stunden also. Klingt wie eine halbe Ewigkeit.

Schweigen.
Wahrscheinlich ist uns allen die Energie ausgegangen. Ich stehe mit
Anna vor dem Fenster, und wir schauen zusammen zum Mond hinauf.
Draußen scheint’s ganz ruhig. Hier in der Stadtmitte ist
normalerweise rund um die Uhr was los. Die haben vermutlich eine
Polizeistunde verhängt. Ich hasse es, von der Außenwelt
abgeschottet zu sein. Vor ein paar Stunden hat eine versucht, den
Kanal zu wechseln. Ging aber nicht. Es gibt keine Knöpfe, mit
denen wir ihn bedienen könnten. Es wiederholen sich immer
dieselben Sendungen. Gebetsstunde für die Frau, die
Predigt des Präsidenten, die vermutlich heutige Fernsehansprache
des Präsidenten, und zwei oder drei weitere religöse
Sendungen, deren ausnahmslos männliche Moderatoren offenbar
nichts anderes zu tun haben, als Frauen zu belehren.

Eine
ununterbrochene Wiederholung von Phrasen und Parolen. Väterliche
Obhut…Blutopfer am Altar des Feminismus…Rückkehr zur
natürlichen Lebensart…der Weg Gottes…die göttliche
Weiblichkeit…volksfeindliches
Emanzentum…Ordnung…Frieden…Jetzt seid ihr frei…die Freuden
des christlich verwalteten Haushaltes…

Das
kann ich nicht mehr hören. Ich krieg langsam Kopfschmerzen. Das
Fernsehgerät würde ich liebend gern zum Fenster
rausschmeißen. Wir sind im 15. Stockwerk. Das Teil ist einer
dieser alten, schweren Fernseher. Wenn’s nicht um Überwachung
geht, ist unsere Justiz eben nicht gerade auf dem neuesten Stand der
Technik. Das gäbe einen schönen Knall. Könnte für
Aufmerksamkeit sorgen, wenn die Polizeistunde schon mal vorbei ist.

Ich
sehe mich wieder im Zimmer um. Einigen ist offenbar ein Nickerchen
gelungen.Andere sitzen einfach da, starren sprachlos vor sich hin.
Jennifer weint im Schweigen. Anna schaut auf den Fußboden.
Judith betrachtet mit nachdenklicher Miene den Fernseher. Rogelia
hängen die Lider schlaff, aber ihre Augen funkeln. Ob meine noch
funkeln? Ich hätte gern einen Spiegel. Wie sehe ich jetzt wohl
aus? Vermutlich wie eine erschöpfte, halb verhungerte 45jährige
Ex-Juristin, deren Leben und Freiheit von einem ziemlich gefährlichen
Schachzug abhängen. Auf gutes Gelingen also!

Was
habe ich gestern noch alles gemacht? Um ca. 8 Uhr aufgestanden.
Kaffee getrunken. Packung Kippen gekauft. Am Schriftsatz für
diese Asylsache rumgeschrieben. Eine für heute geplante
gemeinsame Kundgebung mit der Facharbeitergewerkschaft organisiert.
Paar Erörterungstermine vor dem Bezirksgericht. Dann hab ich
nachher im Aktenkoffer eine merkwürdige Nachricht von Herrn X,
meinem Kontakt im Ministerium, gefunden.

HALB
2 FRÜH VOR DER ALTEN DRUCKEREI

ÄUSSERST
WICHTIG!

Dann
habe ich ein paar Honorarschecks auf mein inzwischen eingefrorenes
Konto eingezahlt. Flasche Rotwein gekauft. Mir was zum Abendessen
zubereitet. Beim Essen die Auslandspresse gelesen.

Ein
stinknormaler Tag also, bis auf diese Nachricht. Nichts als
Selbstverständliches. Was wird ab morgen selbstverständlich
sein, wenn uns diese Aktion nicht gelingt? Wo werde ich wohnen? Was
werde ich jeden Tag machen? Werde ich meine Sachen mitbringen dürfen?
Meinen Luxemburg-Band möchte ich nicht missen. Werde ich diese
Kolleginnen jemals wiedersehen? Keine Ahnung. Fragen bringt eh
nichts.

Merkwürdig.
Indem sie uns so entrechtet und
entmündigt haben, sind neue gemeinsame Interessen entstanden.
Wir gehören keiner Klasse mehr an, keinem Stand. Wir haben kein
Geld, kein Vermögen, keine Privilegien mehr. Diese neue Ordnung
hat unter uns die tatsächliche Gleichheit herbeigeführt. Da
kann ich nur lachen.
Von heute auf morgen haben die für
mehr als die Hälfte der Bevölkerung den Kapitalismus
abgeschafft. Soviel haben wir in mehr als 100 Jahren nicht geleistet
.

Wird
diese neuentstandene Solidarität auch der bevorstehenden harten
Prüfung standhalten? Die möglichen Bruchstellen sind klar
genug. Diese Konzernanwältinnen machen mir große Sorgen.
Ihre Elitestellung haben sie vor allem ihrem großen
Anpassungsvermögen zu verdanken. In der Schule haben sie sich
immer bei ihren Lehrern angebiedert. Sie wurden Klassenbeste. An
ihren Elite-Unis wußten sie immer intuitiv, was die Dozenten
und Professoren hören wollten. Sie haben mit besten Noten das
Studium abgeschlossen. Beruflich haben sie immer den richtigen
gefallen, und wurden deshalb rasch befördert.

In
Sachen Widerstand sind die gänzlich ungeübt. Sie haben sich
stets nach den Bedürfnissen der Machthaber gerichtet. Heute
haben sie das meiste verloren, und haben sich doch am schnellsten
damit abgefunden.

Was
tun, wenn die sich gleich ergeben?

Eine
sehr gute Frage, die ich nicht beantworten kann.

"…ist
die freudige Unterordnung euer Weg. Die Männer sind eure
naturgemäßen Führer. Ohne sie habt ihr
Schwierigkeiten ohne Ende. Mit ihnen sind Sicherheit, Schutz,
Komfort, Stabilität, und Sorgenfreiheit garantiert…"
ertönt es aus diesem verfluchten Fernseher.

Ich
setze mich wieder neben Judith.

"Vom
Mann im orangefarbenen Anzug sollen wir uns also Vorträge halten
lassen. Köstlich!"

"Er
schützt dich vor der Ellenbogenwelt des Berufslebens. Er befreit
dich von allem, was dich von deinen naturgemäßen Aufgaben
als Ehefrau und Mutter abhält. Die Träume deiner Kindheit
werden damit endlich Wirklichkeit!"

"Eins
muß ich schon sagen," seufzt Judith, "die kennen ihr
Publikum."

Ich
nicke nur. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

"Scheiße,
verdammte!" meldet sich plötzlich eine Stimme aus der Mitte
des Zimmers. Ich glaube, sie gehört der Frau, die sich vorhin
über ihren Hunger beklagt hat. "Wie konnt ich denn so blöd
sein?!"

Sie
ist so ziemlich die einzige in diesem Zimmer, deren Gesicht ich
überhaupt nicht kenne. Sicherlich keine Konzernanwältin.
Ihr Kostüm ist zwar ganz schön, hat aber höchstens
$300 gekostet. Ihre elegant gekämmten Haare und ihr geschminktes
Gesicht verraten mir, daß sie nicht im Bett oder in der Dusche
erwischt wurde.

Bürokratin
oder sowas ähnliches.

Langsam
kommt sie auf mich zu.

"Was
ist denn?" frage ich sie.

"Wie
konnte mir das entgehen?"

"Was
denn?"

Die
Bürokratin heißt Kimberly Schmidt-Hoffmann. Nach ihren
Angaben stand sie zuletzt im Solde des Ministeriums für
Staatssicherheit. Seit zwei Jahren seien ihr konspirative
Besprechungen aufgefallen.

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