Teil I-Die Stunde Null-Kapitel 5

Eine
etwas jüngere Frau kommt von ganz hinten auf uns zu. "Frau
Professor Prats! Sind Sie das?"

"Die
hatte bei mir Feministische Judikatur," flüstert mir
Rogelia ins Ohr, "keine Ahnung mehr, wie die heißt."

Die
junge Frau ist höchstens 25 Jahre alt. Vermutlich hat sie gerade
diesen Sommer ihren Abschluss gemacht und paukt seither fleißig
für das Zulassungsexamen.

"Sind
Sie nicht Dr. Olivetti?" fragt sie mich, "ich hab grad
angefangen, Ihr Buch zu lesen!"

"Unter
den Umständen kannst du mich gern mit Andrea anreden. Mein Titel
ist derzeit nicht gerade viel wert, und mein Buch wird’s
wahrscheinlich auch nicht mehr lange geben. Du hättest es doch
mitbringen sollen. Mit Autogramm könnte so eine Letztauflage
viel wert sein."

"Also,
es ist mir halt ‘ne richtige Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.
Einfach genial."

Das
hat mir gerade gefehlt. Die Kleine versteht rein gar nichts. Glaubt
sie etwa, daß wir auf einem Kongreß seien? Daß das
hier ein Vorstellungsgespräch sei? Sie schwätzt weiter und
ich nicke ihr alle paar Sekunden höflich zu. Selbst unter
normalen Umständen kann ich diese Ehrerbieterei kaum ausstehen.
Im Hier und Jetzt klingt es nur noch nach Hohn und Spott. Dem
Gelabber entnehme ich, daß sie Jennifer Biermann heißt
und seit dem Abschluß bei einem Bundesrichter als Referendarin
arbeitet.

"Sehr
angenehm", sage ich.

Ich
weiß nicht, wer mir mehr leid tut. Die versammelten Kolleginnen
und Richterinnen, deren jahrelanger beruflicher Aufstieg einfach so
für nicht existent erklärt worden ist, oder dieses Mädel,
das nie so richtig wissen wird, was es verloren hat. Eigentlich
beneide ich sie sogar darum. Sie hatte viel weniger zu verlieren.
Geld hatte sie eh nicht. Studenten sind immer pleite. Ein eigenes
Haus hatte sie auf keinen Fall. Studentenwohnheim oder irgendso eine
ghettomäßige Wohnung im Univiertel. Wenn sie nicht immer
noch bei ihren Eltern wohnt. Sie hat nur ihre Schulden zu verlieren.
Alles andere hatte sie noch gar nicht. Schwein gehabt.

Rogelia
fällt nichts anderes zu sagen ein als "Jennifer, es tut mir
so unendlich leid."

Aber
Jennifer hört kein Wort. Stattdessen erzählt sie von ihrem
Referendariat. Urteile verfassen, Dokumente analysieren, Schriftsätze
lesen, sogar recherchieren. Es macht ihr alles sehr viel Spaß.
Ihr Richter habe ihr neulich gesagt, daß ihre Analyse für
eine seiner Entscheidungen maßgeblich gewesen sei. Ihren Stolz
kann ich ihr gar nicht übelnehmen. Ich weiß selber noch,
wie das damals war, als ich mich zum allerersten Male wie eine
richtige Juristin gefühlt habe. Aber das halte ich nicht mehr
aus.

"Jennifer,"
unterbreche ich sie sanft, "also, ich weiß nicht, wie ich
das sagen soll. Das ist absolut nichts gegen dich. Wirklich. Es freut
mich, daß dir mein Buch so gut gefällt, und daß dir
dein Referendariat Spaß gemacht hat. Sehr sogar. Und daß
es dir ‘ne Ehre ist, mich kennenzulernen, will ich dir auch nicht
nehmen." Seufzer. "Aber ich frag mich langsam, ob dir
eigentlich klar ist, was hier läuft."

"Ja,"
erwidert sie. Ich schaue ihr in die Augen und lege ihr meine Hand auf
die Schulter. "Und ich hab da eine Idee, wie wir das anfechten
können. Ich glaube, daß eine negative Feststellungsklage
der geeignete Weg ist. Wir verlangen einfach eine gerichtliche
Feststellung, daß diese Behandlung einen Verstoß sowohl
gegen die Verfassung als auch gegen einfaches Bundesrecht darstellt.
Mit einer einstweiligen Verfügung kriegen wir dann
zwischenzeitlich wieder Zugang zu unserem Vermögen." Zum
Schluß lächelt sie uns stolz an.

Jetzt
heule ich wieder. Rogelia kniet zu mir nieder, und zwischen
Schluchzern sage ich ihr "Gar nichts versteht sie, rein gar
nichts!"


Jennifer
errötet und schaut weg. Ob es daran liegt, daß sie die
Situation endlich begreift? Oder fühlt sie sich bloß von
mir gedemütigt?

"Jennifer,
hör mal zu." Ich will sie schließlich nicht
angreifen. Vielleicht macht sie nur auf tapfer, weil sie vor sovielen
Kolleginnen keine Angst eingestehen will. Kann ich auch verstehen.
"Ich möchte dem soeben Gesagten noch was hinzufügen.
Hörst du mir zu? Deine Analyse der rechtlichen Gesichtspunkte
ist zutreffend. Auf die Idee einer Feststellungsklage in Verbindung
mit einem Antrag auf EV war ich auch gekommen. Grundsätzlich
halt ich das eben für den richtigen Weg."

Jetzt
hört sie wieder zu. Sie lächelt sogar ein bißchen.
Mensch, die ist so verdammt jung!

"Echt
jetzt?"

"Ja.
Ganz ehrlich. Ich vermute, daß die Hälfte der hier
Anwesenden die rechtlichen Gesichtspunkte genauso gewürdigt
hätte. Du warst bestimmt eine verdammt gute Referendarin, und
wärst wahrscheinlich auch noch eine hervorragende Anwältin
geworden. Vielleicht wirst du’s noch, wenn diese jetzige Schweinerei
hinreichend kurzlebig ist. Na, Rogelia?"

"Ganz
deiner Meinung," pflichtet sie mir bei.

"Also,
die Gerichte sind nie hundertprozentig unabhängig. Sie werden
von allgemeinen sozialen Tendenzen und Machtkonzentrationen
beeinflusst. Ist dir wohl auch klar, ne? Im Augenblick ist uns
deshalb der Rechtsweg völlig versperrt. Ich weiß nicht,
wieviel du davon schon mitgekriegt hast, aber Frauen sind hierzulande
nicht mehr prozeßfähig. Wir können nicht einfach
unsere Rechte einklagen, wie wir’s gestern noch getan hätten.
Denn diese Rechte haben wir nicht."

Jennifer
sagt kein Wort. Sie nickt mir nur zu. Jetzt versteht sie, worum’s
geht.

"Das
heißt aber nicht, daß es gar keinen Ausweg gibt. Einen
Ausweg wird es schon geben.
Wir müssen uns halt was
einfallen lassen."

"Verstehe."

"Aber
fürs erste hör bloß auf, mich zu Siezen. Das tut weh
und hilft gar nicht. Wir dürfen uns nicht einbilden, daß
wir unter normalen Umständen hier sind."

Rogelia
holt etwas aus der Jackentasche. Auf den ersten Blick sieht’s aus wie
eine Zigarette. Während sie es anzündet, merke ich aber,
daß es eine Tüte ist. Mensch, das riecht aber schön.

"Darf
ich mal dran ziehn?" frage ich.

Juana,
bis heute stellvertretende Staatsanwältin, schaut uns dabei zu.
Rogelia reicht mir die Tüte. Das tut gut. Sehr sogar.

"Danke",
mault Juana. "Ganze fünf Minuten hatte ich vergessen, was
heut passiert ist."

Dabei
hatte ich vergessen, daß wir in Anwesenheit der für
Betäubungsmitteldelikte zuständigen Staatsanwältin
kiffen.

Merkwürdig,
denke ich, früher
hab ich bei ihrem Anblick immer nur die Staatsmacht gesehen. So
schnell hat sich mein mentales Bild von ihr ihrer neuen
Rechtsstellung angepaßt.

Ich
wende mich lachend an Rogelia.

"Rechtsstellung",
sag ich ihr, "köstliches Wort. Ganz passend."

"Was?"
fragt sie, während sie mir die Tüte abnimmt.

"Rechtsstellung,"
erwidere ich, "Rechts. Stellung. Recht und Stellung."

""Du
redest wirres Zeug. Ich glaub, du hast schon genug gekifft."

"Recht.
Stellung. Siehst du’s nicht? Die haben das Recht, und
gebrauchen es dazu, uns dort hinzustellen, wo sie uns haben
wollen."

Jetzt
lacht sie auch, obwohl meine Bemerkung gar nicht so witzig war.

Die
ehemalige stellvertretende Staatsanwältin für BtM-Delikte
Juana Álvarez sagt nur, "Gib ma her!"

Zum
erstenmal in einer ganzen Weile meldet sich auch Judith zu Wort.

"Ob
unser lieber Präsident es sich so vorgestellt hat? Eine
Rechtsanwältin und eine Professorin kiffen mit einer
Staatsanwältin in Gegenwart einer Strafrichterin!"

"Von
der Verfolgung werdet ihr doch absehen, oder?" fragt Rogelia.

"Als
Tatzeugin und Mittäterin müßten wir uns eh ablehnen,"
lacht sie. Ist das Bitterkeit? Egal. Mit einer Geste macht Judith
Henkel, Richterin der 1. Strafkammer, klar, daß auch sie sich
an der Tat beteiligen möchte.

"Bittesehr,"
sagt Rogelia, die inzwischen Riesenpupillen hat.

"Hab
seit den frühen Neunzigern nicht mehr gekifft," sagt sie
voller Reue.

"Das
sind dreißig Jahre!" entfährt es mir.

"Wißt
ihr," redet Judith weiter, "ich hab so vieles aufgegeben,
auf so vieles verzichtet, nur um mir diese Scheiß-Richterlaufbahn
zu sichern."

"Hat’s
sich auch gelohnt?" fragt Juana.

"Mann
ey, warum habt ihr mir nicht erzählt, daß ich so große
Hände hab?!" sage ich.

"Das
Kiffen. Das Schreiben. Mein politisches Engagement. Wißt ihr,
ich war damals auch total links drauf. Hatte sogar ein Manifest
verfaßt. Hab alle Kopien davon vernichten lassen, als mir klar
wurde, daß das meine Chancen gefährden könnte."

"Judith,
das wußte ich gar nicht!"

"Dann
hatte ich eben Erfolg mit meinen Säuberungsmaßnahmen!"
faucht sie.

Juana
zieht wieder an der Tüte.

"Du
hattest Recht, Andrea. Du hattest schon immer Recht."

"Das
freut mich," lächele ich. "Geht’s auch etwas
konkreter?"

"Wegen
unserer Anklagepraktiken. Du hattest immer unterstellt, daß
deine Mandanten eigentlich wegen ihrer politischen Einstellung
angeklagt wurden. Ich habe immer gelogen. Eine unglaubliche
Unterstellung! Einfach unerhört!
Immer so ‘n Scheiß.
Dabei hattest du immer Recht."

"Jetzt
ist es eh scheißegal."

"Habt
ihr euch schon gefragt," gibt Jennifer in die Runde, "wie
unser Leben jetzt aussehen wird?"

"Och,
keine Ahnung," sage ich. "Für euch ist es viel
leichter abzusehen, für dich und Rogelia, mein ich."

"Wieso?"

"Du
ziehst wieder zu deinen Eltern und sie zieht wieder zu ihrem
ehemaligen Ex-Mann."

"Wobei
er eigentlich ein ganz netter Kerl ist," fügt letztere
hinzu, "wir haben uns nur scheiden lassen, weil ich ‘ne Lesbe
bin."

"Ich
aber habe nie geheiratet. Mein Vater ist tot, und ich habe gar keine
männlichen Anverwandten, die noch leben. Somit liegt’s im
Ermessen des Gerichts, bei wem ich lande. Wie mein Leben aussehen
wird, wird drauf ankommen, wen ich als Vormund verpaßt bekomm."

Die
Tüte ist bald zu Ende. Draußen wird’s schon dunkel.

"Im
neuen EPsG heißt es, daß das Nähere von einer vom
Wiederherstellungsministerium zu erlassenden Verordnung geregelt
wird. Die hab ich leider nicht sehen können. Selbst mein Kontakt
im Ministerium wußte nur, daß es die gibt."

"Einen
Kontakt im Ministerium hast du?" fragt Jennifer, die mich jetzt
anglotzt, als ob ich neben all dem anderen Zeug auch noch
Superspionin wäre.

"Ihm
lag viel daran, daß keiner erfahren sollte, daß er schwul
ist. Also hat er sich auf einen Handel eingelassen."

"Das
ist Erpressung," grinst Juana, "Beamtenerpressung sogar!"

"Ich
plädiere auf entschuldigenden Notstand."

"Dem
Antrag wird stattgegeben," lacht Judith.

Obwohl
wir lachen, haben wir alle Trauer im Blick. Gestern noch hatte Juana
das Recht, anzuklagen, ich, das Recht zu plädieren, und Judith
das Recht, zu entscheiden. Heute spielen wir nur.

"Wißt
ihr," jetzt sieht sie aus, als stünde sie kurz vor einer
Epiphanie, "mit der bestehenden Ordnung habe ich mich komplett
abgefunden. Ich hab mich total angepaßt. Linke als "Spinner"
bezeichnet und es dabei sogar wirklich so gemeint. Für die Büros
deiner Partei, Andrea, habe ich sogar einen Durchsuchungsbeschluß
erlassen. "Verdacht der Bildung einer terroristenbegünstigenden
Vereinigung" stand als Begründung. Ich bin einfach
mitgelaufen. Jetzt frag ich mich…"

"Das
brauchst du mir nicht zu erzählen, Judith," sage ich
während ich meine Hand auf die ihre lege. "Ist schon gut."

"Nein,
nein. Es tut gut, dir das zu gestehen. Ich schäme mich. Total
verlogen bin ich. ‘Ne Anpasserin."

"Diesem
System willst du dich aber auf gar keinen Fall anpassen,"
meint Rogelia.

"Naja,…"

"Naja
was," frage ich, ein bißchen beängstigt.

"Vielleicht
ist das genau, was ich jetzt brauche. Ein Richtungswechsel. Womöglich
ist dies meine große Chance…ich könnte wieder mit dem
Schreiben anfangen…"

"Darauf
würd ich mich nicht verlassen, Judith. In ein paar Jahren –
nachdem sich schon längst alle mit dieser Ordnung abgefunden
haben – kommt ein generelles Lese- und Schreibverbot. Veröffentlichen
dürfen wir schon jetzt nichts mehr."

"Das
werden wir aber nicht mit uns machen lassen!" gibt Jennifer zu
Protokoll.

"Warum
nicht?" wieder Rogelia, "bisher haben wir so ziemlich alles
mit uns machen lassen."

Schweigen.

"Na,
alle mal herhören!" redet sie weiter, "wer auch nur
ernsthaft darüber nachgedacht hat, sich aktiv zur Wehr zu
setzen, soll sich melden!"

Nochmal
von vorne? Hab ich nicht schon genug dazu gesagt? Schon gut, schon
gut. Das wird doch nicht nötig sein! Also. Nochmal von vorne.
Mein Entschluß, Rechtsanwältin zu werden, beruhte darauf,
daß ich meine Kampfgenossinnen und -genossen vor der
Staatsmacht schützen wollte. Es gab ja immer Massenverhaftungen,
als wir demonstrierten. Da wollte ich…Weil mir schon damals klar
war, daß diese Gesellschaftsordnung auf Ausbeutung und
Unterdrückung basierte und….
Verleitet
hat mich dazu kein Mensch! Zu diesen Erkenntnissen bin ich
selbständig gelangt. Ohne Fremdeinwirkung, wie Sie das so schön
formulieren. Och, vieles hab ich schon selber beobachtet.
Polizeiliche Gewalt. Hungerlöhne. Massenarmut. Die Zerstückelung
des Sozialwesens. Wie bitte? Ja, gelesen habe ich auch einiges zum
Thema. Ich lese schon seit meiner Kindheit sehr gern. Was einsehen?
Sie reden dummes Zeug. Na, da wir grad dabei sind, wer hat
Sie
denn dazu verleitet, Handlanger der Staatsmacht zu werden?
Muß das denn sein? Ich denk, wir wollen vernünftig
miteinander reden! Na kommen Sie schon! Das wird doch gar nicht
erforderlich sein…AU! SCHEISSE! Glauben Sie denn wirklich, daß
ich diese Methoden nicht kenne? Daß dies mein erstes Verhör
ist? Okay, von mir aus, dann
Beichte.
Könnten wir das nicht später fortsetzen? Ich hab
seit anderthalb Tagen nicht mehr geschlafen. Jetzt hab ich’s kapiert!
Das wird ‘n Propagandastreifen. Deshalb soll ich nicht sichtbar
verwundet sein…Das muß ja freiwillig aussehn, damit keiner
auf die Idee kommt, daß mich jemand dazu
verleitet
haben könnte, ne? Okay. Schon gut. Verdammte
Scheiße….ich glaub, Sie haben mir ‘ne Rippe gebrochen. Sie
sollten mich untersuchen lassen. Könnte glatt passieren, daß
mir ‘ne Lunge platzt. ‘Ne Leiche wird Ihrer Sache nicht gerade
helfen.

"Kolleginnen!"
ruft Rogelia nochmal allen Anwesenden zu. "Habt ihr meine Frage
nicht gehört?"

"Kolleginnen,
alle mal herhören!"

Keine
Reaktion. Einige flüstern weiter, andere betrachten reglos den
Fußboden.

"Mädels!"

Jetzt
hören sie zu. So weit sind wir also schon!

"Meldet
euch bitte, wenn ihr auch nur ernsthaft darüber nachgedacht
habt, euch aktiv zur Wehr zu setzen. Wer von euch ist auf eine
solche Idee gekommen?"


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