Teil I: Die Stunde Null: 4 Kapitel

"Das
ganze war wohl als Überraschung gedacht. Es liegt vermutlich
daran, daß niemand darauf vorbereitet war. Auch in der Partei
haben wir uns natürlich Gedanken gemacht über die Predigt
und den ganzen Scheiß, aber daß auf einmal sowas kommt,
damit hat niemand gerechnet."

Die
Partei.
Wie geht’s denn damit
weiter? Wir müssen schleunigst den Kontakt zueinander suchen.
Wie wir aber unter diesen Umständen beraten können, habe
ich keinen blassen Schimmer. Sowohl das Festnetztelefon als auch mein
Handy haben die Herren "in Verwahrung genommen". Im
Endeffekt egal, denn unsere Telefonate werden schon seit Jahren
abgehört.

Julia
hat mir eine Frage gestellt, die ich nicht gehört habe. Nur noch
acht Minuten. Hier darf sie nicht erwischt werden. Zu gefährlich.

Das
sachlich-professionelle Sie lasse ich nun beiseite. "Du Julia,
hör mal. Jeden Augenblick kommen die rein, um mich abzuführen.
Du mußt dich aus dem Staub machen."

"Verstehe.
Ich bin dir sehr dankbar, Andrea, daß du mich unter solchen
Umständen empfangen hast."

Plötzlich
umarmt sie mich, freundschaftlich, vertrauensvoll. Hier gibt es
schließlich keine Anwalt-Mandant-Beziehung mehr. Das tut gut.
"Paß auf, du hast noch eine Woche Zeit," flüstere
ich ihr ins Ohr, "an deiner Stelle würde ich untertauchen.
Versuche, mit einem Genossen namens Robert K. Kontakt herzustellen.
Der steht im Telefonbuch. Sag ihm, wo ich bin, und daß ich dich
zu ihm geschickt hab. Wenn dir jemand helfen kann, dann er. Jetzt
nichts wie weg!"

Als
die beiden die Tür aufmachten, war Julia bereits im Klo. Zum
Glück haben die das Büro nicht durchsucht.
Die
paar Tausend mehr für schalldichte Türe und Wände
waren’s wert,
denk ich mir,
während mich die beiden zum wartenden Streifenwagen begleiten.
Meine Hände stecken wieder in Handschellen. Zu dritt fahren wir
schweigend durch die Innenstadt, Richtung Justizzentrum.

Jede
Menge Bullen draußen.
Die
Sturmgewehre sind auch neu. Ansonsten sieht die Innenstadt halbwegs
normal aus. Bis auf die lesbische Buchhandlung in der Republic
Street. Das Schild ist weg. Die Scheibe ist eingeschmissen worden.
Draußen steht ein Lkw, den zwei Bullen mit Büchern
beladen. Mit den beiden Besitzerinnen bin ich gut befreundet. Ich
frage mich, wie es ihnen jetzt geht.
Bloß nicht dran
denken. Du hast selber schon genug Ärger.

Der
Wagen hält vor dem hinteren Eingang, wo die in U-Haft
befindlichen Angeklagten und Angeschuldigten sonst immer unter
polizeilicher Überwachung reingehen. Wieviele Mandanten habe ich
durch diesen Eingang begleitet? Hunderte, vermutlich. Der etwas
jüngere, größere Beamte mit der Glatze steigt mit mir
aus.

"Wo
gehen wir jetzt hin?"

"Ruhe
jetzt! Blick nach unten!"

Normalerweise
hätte ich eine angemessen sarkastische Antwort parat. Heute
gehorche ich nur. Er flüstert kurz mit einem Paar bestiefelter
Füße, die vor dem Eingang stehen. Dann kommt er wieder zu
mir herüber.

"Los!
Rein mit dir!" Sein Duzen nehme ich, wie alles andere,
schweigend hin. Wir steigen in den Fahrstuhl. Welchen Knopf er
drückt, kann ich nicht sehen. Zur Haft vielleicht? Oder gleich
ins Gericht?
Abwarten.

Nach
dem Aussteigen sehe ich als erstes den Marmorfußboden. In der
U-Haft sind wir also nicht. Da ist alles aus Stahl und Beton. Ich
höre Männerstimmen, aber sie sind zu leise, um
herauszukriegen, was sie da sagen. Ich sehe, wie er eine Tür
aufmacht. Er schubst mich hinein und verriegelt sie wieder.

Diesen
Raum kenne ich doch. Hier tagt das große Geschworenengericht.
Die Untersuchungsgeschworenen. Überall verängstigte
Frauengesichter. Einige kenne ich. Ganz vorne sitzt Judith Henkel,
bis heute Richterin in der ersten Strafkammer. Hinten sehe ich
Angelika Morelli, Leiterin der Rechtsabteilung eines mittelgroßen
Konzerns hier in der Stadt. Der bin ich mehrmals vor Gericht
begegnet. Damals

ach,
so lange ist es doch nicht her!

war
sie der Albtraum eines jeden Klägervertreters. Heute flüstert
sie Unverständliches mit der Frau, die neben ihr sitzt. Alles
Juristinnen, merke ich. Oder ehemalige Juristinnen. Ich setze mich
neben Richterin Henkel. Vor Gericht haben wir uns immer gut
verstanden. Ihre Einstellung zur bürgerlich-kapitalistischen
Rechtsordnung habe ich schon immer völlig verkehrt gefunden,
aber in ihrer Prozeßführung war sie immer ganz fair.

"Hier
sitzt wohl die halbe Anwaltskammer!" flüstere ich ihr zu.

"Zweiunfünfzig
prozent, den letzten Daten zufolge," korrigiert sie mich.

"Wie
lange sitzen Sie schon hier, Frau Vorsitzende?"

"Judith.
Ich bin seit zehn Stunden keine Richterin mehr, und du darfst nicht
mal dich selbst vertreten", schimpft sie. "Ich glaube, ich
bin schon seit fünf Stunden hier. Keine Ahnung, wie lange das
dauert."

Plötzlich
meldet sich der Fernseher zu Wort. Eine dieser religiösen
Sendungen.
Gebetsstunde für die Frau,
oder wie der Mist heißt.

"Wer
hat denn die Glotze eingeschaltet", frage ich in die Runde.

Niemand
will es gewesen sein. Vermutlich liegt die Fernbedienung bei den
Wächtern draußen.

"Wie
geht’s Ihnen denn, Judith?" Ich kann mich beim besten Willen
nicht dazu bringen, sie zu duzen.

"Wie
soll’s mir denn gehen? Heute morgen saß ich im Büro, trank
Kaffee und las ein paar Schriftsätze, Anträge, über
die ich noch entscheiden mußte. Da kamen diese beiden
bewaffneten Typen bei mir angetanzt. Nicht mal geklopft haben die!
Einer richtete sein Gewehr auf mich, während mir der andere die
Robe vom Leib riß."

"Bei
mir war’s ähnlich," pflichtet ihr die nebenan sitzende
stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Juana Alvarez bei.

"Mich
haben die zu Hause erwischt," sage ich.

"In
den heiligen Schriften steht, sei dem Manne in allen Dingen
untertan," gibt der Mann im Fernseher zum besten. "Wenn ihr
euch von den naturwidrigen Rollen trennt, die euch diese verkommene
weltliche Satansgesellschaft zugemutet hat, handelt ihr im Sinne des
Herrn. Ihr werdet eine große Freude empfinden, denn ihr habt
den Weg des Herrn eingeschlagen!" Er legt hier eine Pause ein.
Vom Publikum kommt kein Applaus. Die vor ihm sitzenden Frauen
schweigen weiter.
In Ecclesiam taceant, oder
so ähnlich.

"Dem
Herrn würd ich viel lieber
den Schädel einschlagen," entfährt es mir.

"Judith,
Juana, habt ihr vielleicht Jeanne Eriksen gesehen?"

Beide
schütteln verneinend den Kopf. Vermutlich ist sie noch nicht
eingeliefert worden. Vielleicht ist ihr sogar die Flucht gelungen.
Jeanne Eriksen ist Verfassungsrechtlerin und derzeit Sprecherin des
parteiinternen Juristenkollektivs.

Dann
merke ich, daß hinter mir ausgerechnet Anna Koulakow sitzt. Sie
ist (war) zwar als Rechtsanwältin zugelassen, hat sich vor
Gericht aber nie blicken lassen. Stattdessen ist sie dauernd im
Fernsehen aufgetreten, um gegen den "totalitären
Feminismus" zu hetzen. Den Anarchosyndikalistischen Frauenbund –
meine Partei – hat sie sogar als "fünfte Kolonne der
terroristischen Erzfeinde unseres Vaterlands" bezeichnet. Vor
ein paar Jahren hat sie für allgemeine Aufregung gesorgt, als
sie die Abschaffung des Frauenstimmrechts forderte, weil Frauen nur
für Blödsinn wie Kinderkrippen, Krankenhäuser, Schulen
und so ihre Stimme abgeben. Abgesehen von ihr selbst, versteht sich.
Da ist mein Mitgefühl maßlos überfordert.

Ich
bedenke sie mit einem hasserfüllten Grinsen. "Na, wie
findest du die, diese neue Ordnung?"

Sie
schweigt weiter. Ich sehe Tränenspuren.

"Du
hast dir damals den Mund ganz vollgenommen. Und jetzt darfst du dich
verstanden fühlen, was? Na, freu dich doch! Du hast es
geschafft!"

Jetzt
schaut sie mir direkt in die Augen. "Leck mich doch, du rote
Fotze!"

Mein
Grinsen wird noch breiter. So kenne ich sie. Im Fernsehen hatte sie
für jeden den geeigneten Schimpfnamen. Fast korrigiere ich sie:
Schwarz-rot, du Lump!,
dann fällt mir aber was besseres ein.

"Dich
lecken? Gilt das unter euch nicht als Sittenbruch? Und du hast dich
grad der Anstiftung schuldig gemacht! Einfach köstlich ist das!"

Anstatt
zu erwidern, spuckt sie mir einfach ins Gesicht. Judith Henkel legt
mir die Hand auf den Arm, um mich zu beruhigen.

"Es
tut mir leid, Frau Vorsitzende," sage ich, etwas ruhiger, "aber
mir ist der Anblick dieser miesen Verräterin einfach zum
Reihern."

"Kann
ich schon verstehen. Aber jetzt sitzt sie genau so in der Scheiße
wie wir."

"Ihre
Scheiße, Judith, ihre.
Genau diesen Leuten haben wir diese Situation zu verdanken."

"Glaubst
du etwa, Kollegin, daß ich das nicht wüßte? Ja,
stimmt! Recht haste! Ich bin selber dran schuld. Schön. Gut.
Einverstanden. Aber eins sag ich dir,
Genossin, ihr
habt’s ja auch nicht verhindert!"

Die
Tür wird aufgeschleudert, und eine etwas kleinere, dunkehaarige
Frau wird so hart hereingeschubst, daß sie zu Boden fällt.
Richterin Henkel und ich helfen ihr auf die Füße. Das ist
Rogelia! Rogelia kenne ich seit meinen Studienjahren. Wir haben
gemeinsam promoviert. Sie ist so ziemlich meine allerbeste Freundin.
Seit ein paar Jahren war sie Professorin für Versicherungs- und
Völkerrecht. Heute hat sie zwei blaue Augen und eine böse
Nasenblutung.

"Mensch,
Rogelia!", ich umarme sie, "wie siehst du denn aus?"

"Ach
das? Bloß eine kleine Debatte im Streifenwagen mit den beiden
Affen, die mich hierher verfrachtet haben."

"Eine
Debatte?"

"Ja.
Eine Debatte. Ich hab die Auffassung vertreten, je größer
die Knarre, desto kleiner der Schwanz. Die waren nicht überzeugt,
und haben erwidert: Je härter die Faust, desto tiefer die
Schädeldelle."

Ich
lache laut, und zwar zum erstenmal seit ich von den Bullen geweckt
wurde. Das tut gut. Rogelia läßt sich nicht verarschen.
Nicht einmal unter diesen Umständen.

"Das
sieht nun wirklich böse aus," pflichtet mir Judith bei.

"Ach,
was! Weicheier waren das. Rein gar nichts im Vergleich zu dem, was
ich damals in Seattle davongetragen hab."

Während
Judith ein paar Taschentücher besorgt, bedenkt Rogelia die Runde
mit einem schiefen Grinsen. "Mensch, sind wir aber ein trister
Verein!"

Hätte
man mich gefragt, hätte ich vermutlich die neuen Zustände
als
gewöhnungsbedürftig bezeichnet.
Wenn ich es mir überlege, stimmt das aber nicht ganz. In einer
wichtigen Hinsicht haben wir uns bereits daran gewöhnt. Gestern
hätten wir noch "Frau Doktor", "Frau Kollegin",
"Frau Staatsanwältin", "Frau Vorsitzende",
"Frau Rechtsanwältin" oder so ähnlich geheißen.
Heute lassen wir uns mit dem Vornamen anreden. Wir duzen uns. Sogar
von diesen Scheißbullen lassen wir uns duzen. Die
professionelle Distanz ist auf einmal verschwunden. Einfach so. Ohne
jeglichen Widerstand. Als ob es sie gar nicht gegeben hätte. Ich
empfinde es sogar als normal, die Richterin der 1. Strafkammer Judith
Henkel einfach mit
Judith anzureden.
Hier gibt es keine Staatsanwältinnen, keine Rechtsanwältinnen,
keine Richterinnen, keine Patentanwältinnen, keine Kolleginnen
mehr. Wir sind nur ein Haufen Weiber ohne Titel, ohne Beruf, ohne
Stand, ohne Amt. Und wir benehmen uns schon entsprechend.

Ob
sich das verallgemeinern wird? Werden wir diese Entmündigung,
diese Bevormundung, diese Gehorsamspflicht, diese Unterordnung, diese
neue "Schweigepflicht", diese Rechtlosigkeit auch einfach
so als normal gewordene Gegebenheiten akzeptieren und uns ihnen
anpassen? Werden wir diese neue Ordnung verinnerlichen? Ich fürchte,
daß das gut möglich ist.

Deshalb
freut es mich maßlos, daß sich wenigstens Rogelia nicht
geändert hat.

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