Teil I Die Stunde Null Kapitel 6

"Die
haben mich in der Dusche erwischt. Ich war splitternackt!"
protestiert Rosa McAlister, bis heute Sozia einer der mächtigsten
Großkanzleien in der Stadt.

"Ich
hatte Angst, du etwa nicht?"

"Ich
hatte keine Ahnung, was los war!"

"Hast
du vielleicht diese Riesenknarren nicht gesehn?"

"Was
soll das?" fragt eine andere.

"Du
Andrea!" kommt eine Stimme von hinten. Die Stimme gehört
einer etwa 35jährigen, die, dem $5000-Kostüm nach zu
beurteilen, es auch schon in einer dieser Riesensozietäten zur
Sozia gebracht hat. "Kommst du mal kurz?"

Gestern
noch hätte sie mich und meine Mandanten wie Verseuchte
behandelt.

"Was
gibt’s denn?"

"Es
hat sich rumgesprochen, daß du das neue EPsG gelesen
hast."

"Stimmt."

"Es
läuft hier gerade eine kleine Debatte, und womöglich
könntest du zur Klärung einiger Streitfragen beitragen,"
meint die neben ihr sitzende schick angezogene Kollegin. Ich kenne
keine von beiden. Nach ihren Namen frage ich auch nicht.

"Vielleicht.
Um was geht’s?"

"Also,
uns ist schon klar, daß unsere Aktiva, unser Vermögen auf
den gesetzlichen Vertreter übergeht. Aber was ist mit den
Passiva?"

"Also…"

"Ich
habe nämlich vermutet, daß auch sie auf den GV übergehen
und aus dem übertragenen Vermögen zu befriedigen sind.
Analog zum Nachlaß oder…"

"Aber
ich halte es für naheliegend, daß die Passiva einfach
gelöscht werden…"

"Aber
es muß doch einen wirksamen Gläubigerschutz geben! Es geht
hier schließlich um Milliarden."

"Also,
die Frage wurde meines Wissens nicht…" sage ich, ehe ich
wieder unterbrochen werde.

"Aber
es gibt ja viele Frauen, die keine Angehörigen haben, die die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen! Da sind Freiwillige
gefragt, und wenn das einen Vermögensnachteil bedeutet, wird
sich doch keiner melden…"

"Mensch,
deshalb sag ich doch, daß die Verbindlichkeiten nur in der Höhe
des übertragenen Vermögens befriedigt werden müßten!
Dann verliert der Vormund gar nichts."

"…explizit
geregelt…"

Ja,
andererseits kann es doch sein, daß er dann nur noch Mehrkosten
bekommt. Wer läßt sich denn freiwillig auf sowas ein?"

"Moment
mal!" das geht mir langsam auf die Nerven. "Wolltet ihr
denn nicht meine Meinung dazu hören?"

"Aber
sicher!" sagt die Frau, die mich hierher bestellt hat. "Klar
doch!"

"Wir
sitzen hier eingesperrt und total entrechtet, von irgendwelchen
bewaffneten Arschgeigen überwacht, und ihr wollt einen wirksamen
Gläubigerschutz und finanzielle Anreize für unsere Vormunde
gewährleisten? Wenn ich heute was gegessen hätte, würde
ich jetzt kotzen."

Während
ich wieder nach vorne gehe, wenden sich die beiden der Thematik der
schwebenden Verfahren zu.

"Mensch
Rogelia," sage ich bei meiner Ankunft, "hier wird’s
schlimm. Hinten läuft ‘ne Debatte darüber, wie die neue
Gesetzgebung die Interessen aller – außer uns – am besten
berücksichtigen kann. So darf’s nicht weitergehen."

"Ich
hab auch dran gedacht," seufzt Judith, "wollte nicht, aber
auf einmal konnte ich nur daran denken. Die Durchführungsverordnung
hab ich quasi selbst entworfen."

"Mal
herhören", rufe ich. "Keine von uns hat Widerstand
geleistet. Ist schon gut. Wir brauchen nicht weiter drüber
reden. Ihr müßt euch nicht deswegen schämen. Das
gehört jetzt der Vergangenheit an. Da wir schon mal hier
eingepfercht sind, sollten wir uns vielleicht überlegen, was wir
jetzt machen wollen. Wer mit der gegenwärtigen Situation
einverstanden ist, soll sich jetzt bitte melden. Wer sich gern
bevormunden und entrechten will lassen, bitte melden!"

Nicht
einmal Anna Koulakow meldet sich.

"Ein
ziemlich eindeutiges Ergebnis," lächelt Rogelia.

"Na
schön. Aber was sollen wir denn machen? Die haben doch schon
quasi gewonnen…"

"Wir
wollen uns doch nicht niederschießen lassen!"

"Streiken",
sagt Rogelia plötzlich, "Wir können streiken!"

Schweigen.

Nach
etwa einer Minute meldet sich Rosa McAlister zu Wort. "Vielleicht
ist es dir entgangen, Frau Professor, daß wir arbeitslos
sind. Welchen Sinn hat es denn bitteschön, das zu verweigern,
was sie uns eh schon verboten haben?"

"Weil
sie noch auf unsere Dienste angewiesen sind."

"Sollen
wir etwa ihre Steuererklärungen ausfüllen?" fragt sie
mit ihrem gewohnten Sarkasmus.

"Laß’
sie doch ausreden!" verlangt Angelika, deren Hauptaufgabe bis
gestern darin bestand, die Bildung von Gewerkschaften zu verhindern.

"Eigentlich
brauchen die uns mehr denn je," sage ich nach kurzem Überlegen.

"Aber
wozu denn?" wieder Rosa.

"Propaganda,"
erwidere ich, "Wir haben derzeit einen hohen Propagandawert."

"Es
gibt in dieser Stadt ungefähr vier Millionen Frauen. Die können
uns unmöglich an einem einzigen Tag alle hoppnehmen,"
erläutert Judith, die mir einen Schritt voraus ist.

"Stimmt
ja! Und heut hat mir doch ‘ne Mandantin ihre Ladung fürs
V-Gericht gezeigt. Sie muß erst nächste Woche erscheinen."

"Dann
sind wir eben die allerersten. Schön für uns!" Rosa
würde ich in diesem Moment am liebsten erdrosseln.

"Darf
ich vielleicht ausreden? Oder willst du doch einen konstruktiven
Beitrag zu dieser Diskussion leisten?"

Endlich
hält sie die Klappe.

"Na
also!" fahre ich fort, "wenn ich mich nicht gewaltig irre,
wird’s jede Menge Kameras geben. Wir sollen ins Fernsehen kommen."

"Nach
dem Motto: Heute wurden die ersten Frauen unserer Republik von
ihren naturwidrigen Rollen befreit. Im Vormundschaftsgericht freuten
sie sich sichtbar auf den ihnen gewährten Neubeginn unter der
väterlichen Obhut ihrer gesetzlichen Vertreter…"

"Genau",
pflichte ich Rogelia bei. "Der Text schreibt sich von selbst…"

"Klar.
Und wenn wir uns ohne Widerstand in die väterliche Obhut
begeben, werden sich die anderen wohl sagen, der Widerstand sei
eh zwecklos…"

"Oder
daß es vielleicht gar nicht so schlecht sein könnte, wenn
sogar wir uns anstandslos bevormunden lassen," so Juana.

"Daß
unser Verhalten für das der übrigen maßgeblich sein
wird, ist den Herren bestimmt ganz klar," meint Rogelia.

"Und
warum sollten sie auch mit Widerstand rechnen," fragt Rosa, die
es endlich begreift, "Bis dato haben wir schließlich gar
keinen geleistet!"

"Ich
hab ‘nen Mordshunger," ertönt es aus der Mitte des Zimmers.
Keine Ahnung, wer das gesagt hat.

"Halt
doch die Klappe", kommt eine andere Stimme. "Das hier ist
wichtig!"

"Daß
wir bestimmt schon seit achtzehn Stunden hier sitzen und gar nichts
zu essen bekommen haben, da scheißt du drauf, oder wie?"

Haben
die denn die Heizung eingeschaltet? Ist doch verdammt heiß
hier.

"Damit
wolln die…" Rogelias Stimme ist wegen des Fernsehlärms
und des inzwischen ganz laut gewordenen Streits kaum zu hören.

"Ruhe!"
schreie ich, "Ruhe jetzt, verdammt nochmal! Darf sie endlich zu
Wort kommen?"

Ich
muß das noch fünfmal sagen, ehe den beiden der Wind
ausgeht.

"Danke!",
sagt Rogelia, "Also, was ich sagen wollte ist, daß die
damit unsere Widerstandskraft schwächen wollen. Der Hunger, der
überfüllte Raum, die Hitze, die Schlaflosigkeit. Bis sie
uns endlich vorführen sollen wir gar keine Kraft mehr haben."

Jetzt
hören wieder alle zu.

Wie
bitte? Was ich als erstes gelesen hab? Kann ich beim besten Willen
nicht mehr sagen, ehrlich. Das ist ja viele Jahre her. Ach,
wahrscheinlich von meiner Mutter. Wie meinen Sie das? Was ich jetzt
gern lese oder als Kind? Ach so. Das wissen Sie bestimmt schon
längst. Meine Wohnung ist zweifellos gründlich durchsucht
worden. Na von mir aus. Simone de Beauvoir, Bakunin, Chomsky…es
wäre doch leichter, sie einfach aufzuschreiben. Ach, natürlich
nicht! Wer will denn schon in
Versuchung
geraten? Wär doch fürchterlich. Das war nur so
ein Vorschlag. Die Bibel? So’n Zeug les ich nicht. Na, weil’s doch
Schwachsinn ist. Für sowas hab ich keine…VERDAMMTE SCHEISSE.
Mensch, das tut weh. Schon gut. Versteh ich schon. Das ist ja
schließlich nicht das erste Mal…

Allgemeines
Schweigen. Alle denken darüber nach, was für Forderungen
wir geltend machen sollten. Keine Ahnung, was daran so schwierig sein
soll.

Angelika
Morelli steht auf, zieht sich ihr Kostüm zurecht, und redet so,
wie sie es vorher bestimmt vor Vorständen und Aufsichtsräten
getan hat.

"Ein
Vetorecht," kündigt sie schließlich an. "Wir
sollen ein Vetorecht in bezug auf die Vormundszuweisung fordern."

"Vielleicht
einfach ein Mitspracherecht. Damit wir dann auch Vorschläge
unterbreiten dürfen," meint noch so eine Konzernanwältin.

"Soviel
gleich auf einmal?" Den Sarkasmus kann ich mir einfach nicht
verbieten.

Rosa
entgeht er aber. "Wir wollen doch nicht zuviel verlangen. Eine
realistische Verhandlungsgrundlage muß geschafft werden."

Von
denen hätte ich wohl nichts anderes erwarten sollen.

"Immerhin
ein Anfang," sagt Rogelia diplomatisch.

"Über
ein paar Dinge sollten wir uns jetzt im Klaren sein," doziere
ich, "Erstens: Mit dieser Aktion setzen wir unsere Leben aufs
Spiel. Zweitens: Es gibt keine zweite Chance. Wenn sie unseren
Forderungen entsprechen, können wir nachher nicht zum Tisch
zurückkehren, wenn wir noch was verlangen wollen, also sollten
wir besser aufs Ganze gehn."

"Aber
müssen wir nicht zunächst einmal den Beweis erbringen, daß
wir bereit sind, vernünftig mit ihnen zu reden?"

"Bullshit
ist das," entfährt es plötzlich Anna, die seit
mehreren Stunden keinen Laut von sich gegeben hat.

"Über
dein Schweigen hatte ich mich doch so unheimlich gefreut!"
mault Rosa.

"Laß
sie reden," sage ich, und überrasche mich dabei selbst.

"Ich
kenne diese Leute, " fährt sie ohne ein Wort an mich fort,
"auf sowas werden sie nicht reagieren."

"Könntest
du das vielleicht ein bißchen ausführlicher erklären?"
fragt Judith.

"Ich
hab mit ihnen…für sie gearbeitet. Ich kenne sie besser als
jede andere hier. Ich weiß, was sie von Frauen halten."

"Vermutlich
nicht gerade viel", unterbricht sie Rogelia mit ihrem schiefen
Grinsen.

"Für
sie sind die…sind wir Kinder, wenn wir überhaupt als
Menschen gelten können, was ja unter denen umstritten ist. Wenn
wir ihnen beweisen wollen, daß wir vernünftig
verhandeln können, haben wir schon verloren…"

"…denn
für die sind wir ja per definitionem irrational,"
fügt Judith hinzu.

"Eben!
Und wir geben ihnen sogar Recht, indem wir nur geringfügige
Änderungen verlangen. Dann heißt es: Die haben selbst
zugegeben, daß sie Vormunde nötig haben. Sonst hätten
die die Abschaffung der Vormundschaft verlangt."

"So
seh ich das auch," pflichte ich ihr bei.

"Und
unser Publikum dürfen wir auch nicht vergessen."

Jennifer
hat recht. Wenn es uns gelingt, mit unserem Streik ins Fernsehen zu
kommen, werden wir zu Vorbildern einer Bewegung. Wenn wir mit
unseren Forderungen weniger als die vollständige
Wiederherstellung unserer Rechte verlangen, werden sich vermutlich
andere danach richten, und diese Ordnung akzeptieren. Wir müssen
ein klares Signal geben: NICHT MIT UNS!

Letzten
Endes stehen unsere Forderungen auf Servietten geschrieben, die
jemand in der Tasche gefunden hat. Irgendwie peinlich.

Die
Liste endet mit einem Aufruf zum Widerstand gegen alle Maßnahmen
"der frauenfeindlichen Verbrecherordnung". Einige haben
eine "neutralere" Formulierung gefordert – "Widerstand
gegen alle in den letzten Tagen erlassenen Rechtsvorschriften,
insbes. das neue Ehe- und Personenstandsgesetz, sowie alle vom
Ministerium für Nationale Wiederherstellung erlassenen
Verordnungen" – aber am Ende hat sich Judith mit ihrem Text
durchgesetzt.

Den
Text soll Anna vorlesen, die es gewohnt ist, vor Fernsehkameras
aufzutreten. Daß ausgerechnet sie diese Forderungen
befürwortet, wird bestimmt einen großen Eindruck machen.

Obwohl
ich mangels Armbanduhr keine genauen Angaben machen kann, ist es
bestimmt schon Mitternacht. Einige versuchen, wenigstens ein bißchen
zu schlafen, aber der inzwischen auf maximale Lautstärke
gedrehte Fernseher macht angemessenen Schlaf so gut wie unmöglich.

Ich
habe inzwischen Hungerschmerzen. Die Wirkung der
Meditationstechniken, die ich für Hungerstreiks gelernt habe,
hält sich in Grenzen. Ist ja halt was anderes, wenn der Hunger
nicht auf einem freien Willensentschluß beruht. Da hat das Gras
bestimmt auch nicht gerade geholfen.

Wie
kannst du denn Hunger haben? Du hast doch gerade eine Lasagna
gegessen. Mit Provolone, Mozzarella, Parmigiano, Basilikum und diesen
köstlichen hausgemachten Nudeln…

Verdammt,
das macht es noch schlimmer!

Anna
kommt zu mir rüber. Die Augen kann sie kaum aufhalten.

"Paß
ma auf," sagt sie nach mehreren Seufzern, "ich wollte dir
nur sagen, daß es mir leid tut…"

Anna
Koulakow entschuldigt sich? Es gibt doch noch Zeichen und Wunder!

"Ich
hätte dich nicht anspucken sollen. Und was ich über
dich…und deine Partei…so im Fernsehen gesagt hab…Das war
einfach…"

"
‘Horde randalierender Unweiber’ hab ich besonders gut gefunden,"
lächele ich.

"Das
war einfach total daneben. Und daß ich mich bei den Leuten
angebiedert habe,…daß es solche Auswirkungen hätte…"

"Schon
gut, schon gut. Ich hätte dich auch nicht so beschimpfen sollen.
Meine Wut habe ich auf die falsche Person ausgetragen. Du hattest
recht. Wir haben’s nicht verhindert…"

"Aber
ich hab diese Entwicklung aktiv begünstigt."

"Übertreib’s
doch nicht. Wenn du dich nicht zur Verfügung gestellt hättest,
hätten die bestimmt ‘ne andere gefunden, wenn auch nicht mit
deinem Talent."

"Ich
wünschte mir, ich könnte es alles wiedergutmachen, alles
rückgängig machen…"

"Wenn
du unseren Text so gut rüberbringst wie damals diese ganze
antifeministische Hetze, dann wirst du schon den Schaden
wiedergutgemacht haben."

Wir
schauen einander in die Augen, und denken uns dabei bestimmt
dasselbe:

Daß
ich ausgerechnet mit ihr gemeinsame Sache mache. Sachen gibt’s!

Nach
ein paar Minuten Schweigen sagt sie, "Ich glaube, ich weiß,
wie lange wir noch warten müssen…"

"Echt?"

"Ja.
Ich denke seit mehreren Stunden drüber nach." Gähnen.
"Also, die wollen sich bestimmt die höchstmögliche
Zuschauerquote sichern."

Ich
nicke.

"Adressaten
dieser ganzen Veranstaltung sind doch die Frauen, nich?"

"Klar."

"…die
eh schon den ganzen Tag zu Hause sein werden."

"Arbeiten
gehn tun die eh nicht mehr."

"…und
ohne Geld können die auch nicht einkaufen oder essen gehn."

"Genau."

"Deshalb
vermute ich, daß die Sendung gegen Mittag ausgestrahlt wird. Da
sind die meisten längst wach und trinken Kaffee im Wohnzimmer."

"Kann
gut sein."

"Noch
zwölf Stunden also. Wahrscheinlich ein bißchen weniger.
Wir müssen ja alle fernsehklar sein, und das dauert."

Noch
zwölf Stunden also. Klingt wie eine halbe Ewigkeit.

Schweigen.
Wahrscheinlich ist uns allen die Energie ausgegangen. Ich stehe mit
Anna vor dem Fenster, und wir schauen zusammen zum Mond hinauf.
Draußen scheint’s ganz ruhig. Hier in der Stadtmitte ist
normalerweise rund um die Uhr was los. Die haben vermutlich eine
Polizeistunde verhängt. Ich hasse es, von der Außenwelt
abgeschottet zu sein. Vor ein paar Stunden hat eine versucht, den
Kanal zu wechseln. Ging aber nicht. Es gibt keine Knöpfe, mit
denen wir ihn bedienen könnten. Es wiederholen sich immer
dieselben Sendungen. Gebetsstunde für die Frau, die
Predigt des Präsidenten, die vermutlich heutige Fernsehansprache
des Präsidenten, und zwei oder drei weitere religöse
Sendungen, deren ausnahmslos männliche Moderatoren offenbar
nichts anderes zu tun haben, als Frauen zu belehren.

Eine
ununterbrochene Wiederholung von Phrasen und Parolen. Väterliche
Obhut…Blutopfer am Altar des Feminismus…Rückkehr zur
natürlichen Lebensart…der Weg Gottes…die göttliche
Weiblichkeit…volksfeindliches
Emanzentum…Ordnung…Frieden…Jetzt seid ihr frei…die Freuden
des christlich verwalteten Haushaltes…

Das
kann ich nicht mehr hören. Ich krieg langsam Kopfschmerzen. Das
Fernsehgerät würde ich liebend gern zum Fenster
rausschmeißen. Wir sind im 15. Stockwerk. Das Teil ist einer
dieser alten, schweren Fernseher. Wenn’s nicht um Überwachung
geht, ist unsere Justiz eben nicht gerade auf dem neuesten Stand der
Technik. Das gäbe einen schönen Knall. Könnte für
Aufmerksamkeit sorgen, wenn die Polizeistunde schon mal vorbei ist.

Ich
sehe mich wieder im Zimmer um. Einigen ist offenbar ein Nickerchen
gelungen.Andere sitzen einfach da, starren sprachlos vor sich hin.
Jennifer weint im Schweigen. Anna schaut auf den Fußboden.
Judith betrachtet mit nachdenklicher Miene den Fernseher. Rogelia
hängen die Lider schlaff, aber ihre Augen funkeln. Ob meine noch
funkeln? Ich hätte gern einen Spiegel. Wie sehe ich jetzt wohl
aus? Vermutlich wie eine erschöpfte, halb verhungerte 45jährige
Ex-Juristin, deren Leben und Freiheit von einem ziemlich gefährlichen
Schachzug abhängen. Auf gutes Gelingen also!

Was
habe ich gestern noch alles gemacht? Um ca. 8 Uhr aufgestanden.
Kaffee getrunken. Packung Kippen gekauft. Am Schriftsatz für
diese Asylsache rumgeschrieben. Eine für heute geplante
gemeinsame Kundgebung mit der Facharbeitergewerkschaft organisiert.
Paar Erörterungstermine vor dem Bezirksgericht. Dann hab ich
nachher im Aktenkoffer eine merkwürdige Nachricht von Herrn X,
meinem Kontakt im Ministerium, gefunden.

HALB
2 FRÜH VOR DER ALTEN DRUCKEREI

ÄUSSERST
WICHTIG!

Dann
habe ich ein paar Honorarschecks auf mein inzwischen eingefrorenes
Konto eingezahlt. Flasche Rotwein gekauft. Mir was zum Abendessen
zubereitet. Beim Essen die Auslandspresse gelesen.

Ein
stinknormaler Tag also, bis auf diese Nachricht. Nichts als
Selbstverständliches. Was wird ab morgen selbstverständlich
sein, wenn uns diese Aktion nicht gelingt? Wo werde ich wohnen? Was
werde ich jeden Tag machen? Werde ich meine Sachen mitbringen dürfen?
Meinen Luxemburg-Band möchte ich nicht missen. Werde ich diese
Kolleginnen jemals wiedersehen? Keine Ahnung. Fragen bringt eh
nichts.

Merkwürdig.
Indem sie uns so entrechtet und
entmündigt haben, sind neue gemeinsame Interessen entstanden.
Wir gehören keiner Klasse mehr an, keinem Stand. Wir haben kein
Geld, kein Vermögen, keine Privilegien mehr. Diese neue Ordnung
hat unter uns die tatsächliche Gleichheit herbeigeführt. Da
kann ich nur lachen.
Von heute auf morgen haben die für
mehr als die Hälfte der Bevölkerung den Kapitalismus
abgeschafft. Soviel haben wir in mehr als 100 Jahren nicht geleistet
.

Wird
diese neuentstandene Solidarität auch der bevorstehenden harten
Prüfung standhalten? Die möglichen Bruchstellen sind klar
genug. Diese Konzernanwältinnen machen mir große Sorgen.
Ihre Elitestellung haben sie vor allem ihrem großen
Anpassungsvermögen zu verdanken. In der Schule haben sie sich
immer bei ihren Lehrern angebiedert. Sie wurden Klassenbeste. An
ihren Elite-Unis wußten sie immer intuitiv, was die Dozenten
und Professoren hören wollten. Sie haben mit besten Noten das
Studium abgeschlossen. Beruflich haben sie immer den richtigen
gefallen, und wurden deshalb rasch befördert.

In
Sachen Widerstand sind die gänzlich ungeübt. Sie haben sich
stets nach den Bedürfnissen der Machthaber gerichtet. Heute
haben sie das meiste verloren, und haben sich doch am schnellsten
damit abgefunden.

Was
tun, wenn die sich gleich ergeben?

Eine
sehr gute Frage, die ich nicht beantworten kann.

"…ist
die freudige Unterordnung euer Weg. Die Männer sind eure
naturgemäßen Führer. Ohne sie habt ihr
Schwierigkeiten ohne Ende. Mit ihnen sind Sicherheit, Schutz,
Komfort, Stabilität, und Sorgenfreiheit garantiert…"
ertönt es aus diesem verfluchten Fernseher.

Ich
setze mich wieder neben Judith.

"Vom
Mann im orangefarbenen Anzug sollen wir uns also Vorträge halten
lassen. Köstlich!"

"Er
schützt dich vor der Ellenbogenwelt des Berufslebens. Er befreit
dich von allem, was dich von deinen naturgemäßen Aufgaben
als Ehefrau und Mutter abhält. Die Träume deiner Kindheit
werden damit endlich Wirklichkeit!"

"Eins
muß ich schon sagen," seufzt Judith, "die kennen ihr
Publikum."

Ich
nicke nur. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

"Scheiße,
verdammte!" meldet sich plötzlich eine Stimme aus der Mitte
des Zimmers. Ich glaube, sie gehört der Frau, die sich vorhin
über ihren Hunger beklagt hat. "Wie konnt ich denn so blöd
sein?!"

Sie
ist so ziemlich die einzige in diesem Zimmer, deren Gesicht ich
überhaupt nicht kenne. Sicherlich keine Konzernanwältin.
Ihr Kostüm ist zwar ganz schön, hat aber höchstens
$300 gekostet. Ihre elegant gekämmten Haare und ihr geschminktes
Gesicht verraten mir, daß sie nicht im Bett oder in der Dusche
erwischt wurde.

Bürokratin
oder sowas ähnliches.

Langsam
kommt sie auf mich zu.

"Was
ist denn?" frage ich sie.

"Wie
konnte mir das entgehen?"

"Was
denn?"

Die
Bürokratin heißt Kimberly Schmidt-Hoffmann. Nach ihren
Angaben stand sie zuletzt im Solde des Ministeriums für
Staatssicherheit. Seit zwei Jahren seien ihr konspirative
Besprechungen aufgefallen.

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I Die Stunde Null Kapitel 6

Teil I Die Stunde Null Kapitel 6

"Die
haben mich in der Dusche erwischt. Ich war splitternackt!"
protestiert Rosa McAlister, bis heute Sozia einer der mächtigsten
Großkanzleien in der Stadt.

"Ich
hatte Angst, du etwa nicht?"

"Ich
hatte keine Ahnung, was los war!"

"Hast
du vielleicht diese Riesenknarren nicht gesehn?"

"Was
soll das?" fragt eine andere.

"Du
Andrea!" kommt eine Stimme von hinten. Die Stimme gehört
einer etwa 35jährigen, die, dem $5000-Kostüm nach zu
beurteilen, es auch schon in einer dieser Riesensozietäten zur
Sozia gebracht hat. "Kommst du mal kurz?"

Gestern
noch hätte sie mich und meine Mandanten wie Verseuchte
behandelt.

"Was
gibt’s denn?"

"Es
hat sich rumgesprochen, daß du das neue EPsG gelesen
hast."

"Stimmt."

"Es
läuft hier gerade eine kleine Debatte, und womöglich
könntest du zur Klärung einiger Streitfragen beitragen,"
meint die neben ihr sitzende schick angezogene Kollegin. Ich kenne
keine von beiden. Nach ihren Namen frage ich auch nicht.

"Vielleicht.
Um was geht’s?"

"Also,
uns ist schon klar, daß unsere Aktiva, unser Vermögen auf
den gesetzlichen Vertreter übergeht. Aber was ist mit den
Passiva?"

"Also…"

"Ich
habe nämlich vermutet, daß auch sie auf den GV übergehen
und aus dem übertragenen Vermögen zu befriedigen sind.
Analog zum Nachlaß oder…"

"Aber
ich halte es für naheliegend, daß die Passiva einfach
gelöscht werden…"

"Aber
es muß doch einen wirksamen Gläubigerschutz geben! Es geht
hier schließlich um Milliarden."

"Also,
die Frage wurde meines Wissens nicht…" sage ich, ehe ich
wieder unterbrochen werde.

"Aber
es gibt ja viele Frauen, die keine Angehörigen haben, die die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen! Da sind Freiwillige
gefragt, und wenn das einen Vermögensnachteil bedeutet, wird
sich doch keiner melden…"

"Mensch,
deshalb sag ich doch, daß die Verbindlichkeiten nur in der Höhe
des übertragenen Vermögens befriedigt werden müßten!
Dann verliert der Vormund gar nichts."

"…explizit
geregelt…"

Ja,
andererseits kann es doch sein, daß er dann nur noch Mehrkosten
bekommt. Wer läßt sich denn freiwillig auf sowas ein?"

"Moment
mal!" das geht mir langsam auf die Nerven. "Wolltet ihr
denn nicht meine Meinung dazu hören?"

"Aber
sicher!" sagt die Frau, die mich hierher bestellt hat. "Klar
doch!"

"Wir
sitzen hier eingesperrt und total entrechtet, von irgendwelchen
bewaffneten Arschgeigen überwacht, und ihr wollt einen wirksamen
Gläubigerschutz und finanzielle Anreize für unsere Vormunde
gewährleisten? Wenn ich heute was gegessen hätte, würde
ich jetzt kotzen."

Während
ich wieder nach vorne gehe, wenden sich die beiden der Thematik der
schwebenden Verfahren zu.

"Mensch
Rogelia," sage ich bei meiner Ankunft, "hier wird’s
schlimm. Hinten läuft ‘ne Debatte darüber, wie die neue
Gesetzgebung die Interessen aller – außer uns – am besten
berücksichtigen kann. So darf’s nicht weitergehen."

"Ich
hab auch dran gedacht," seufzt Judith, "wollte nicht, aber
auf einmal konnte ich nur daran denken. Die Durchführungsverordnung
hab ich quasi selbst entworfen."

"Mal
herhören", rufe ich. "Keine von uns hat Widerstand
geleistet. Ist schon gut. Wir brauchen nicht weiter drüber
reden. Ihr müßt euch nicht deswegen schämen. Das
gehört jetzt der Vergangenheit an. Da wir schon mal hier
eingepfercht sind, sollten wir uns vielleicht überlegen, was wir
jetzt machen wollen. Wer mit der gegenwärtigen Situation
einverstanden ist, soll sich jetzt bitte melden. Wer sich gern
bevormunden und entrechten will lassen, bitte melden!"

Nicht
einmal Anna Koulakow meldet sich.

"Ein
ziemlich eindeutiges Ergebnis," lächelt Rogelia.

"Na
schön. Aber was sollen wir denn machen? Die haben doch schon
quasi gewonnen…"

"Wir
wollen uns doch nicht niederschießen lassen!"

"Streiken",
sagt Rogelia plötzlich, "Wir können streiken!"

Schweigen.

Nach
etwa einer Minute meldet sich Rosa McAlister zu Wort. "Vielleicht
ist es dir entgangen, Frau Professor, daß wir arbeitslos
sind. Welchen Sinn hat es denn bitteschön, das zu verweigern,
was sie uns eh schon verboten haben?"

"Weil
sie noch auf unsere Dienste angewiesen sind."

"Sollen
wir etwa ihre Steuererklärungen ausfüllen?" fragt sie
mit ihrem gewohnten Sarkasmus.

"Laß’
sie doch ausreden!" verlangt Angelika, deren Hauptaufgabe bis
gestern darin bestand, die Bildung von Gewerkschaften zu verhindern.

"Eigentlich
brauchen die uns mehr denn je," sage ich nach kurzem Überlegen.

"Aber
wozu denn?" wieder Rosa.

"Propaganda,"
erwidere ich, "Wir haben derzeit einen hohen Propagandawert."

"Es
gibt in dieser Stadt ungefähr vier Millionen Frauen. Die können
uns unmöglich an einem einzigen Tag alle hoppnehmen,"
erläutert Judith, die mir einen Schritt voraus ist.

"Stimmt
ja! Und heut hat mir doch ‘ne Mandantin ihre Ladung fürs
V-Gericht gezeigt. Sie muß erst nächste Woche erscheinen."

"Dann
sind wir eben die allerersten. Schön für uns!" Rosa
würde ich in diesem Moment am liebsten erdrosseln.

"Darf
ich vielleicht ausreden? Oder willst du doch einen konstruktiven
Beitrag zu dieser Diskussion leisten?"

Endlich
hält sie die Klappe.

"Na
also!" fahre ich fort, "wenn ich mich nicht gewaltig irre,
wird’s jede Menge Kameras geben. Wir sollen ins Fernsehen kommen."

"Nach
dem Motto: Heute wurden die ersten Frauen unserer Republik von
ihren naturwidrigen Rollen befreit. Im Vormundschaftsgericht freuten
sie sich sichtbar auf den ihnen gewährten Neubeginn unter der
väterlichen Obhut ihrer gesetzlichen Vertreter…"

"Genau",
pflichte ich Rogelia bei. "Der Text schreibt sich von selbst…"

"Klar.
Und wenn wir uns ohne Widerstand in die väterliche Obhut
begeben, werden sich die anderen wohl sagen, der Widerstand sei
eh zwecklos…"

"Oder
daß es vielleicht gar nicht so schlecht sein könnte, wenn
sogar wir uns anstandslos bevormunden lassen," so Juana.

"Daß
unser Verhalten für das der übrigen maßgeblich sein
wird, ist den Herren bestimmt ganz klar," meint Rogelia.

"Und
warum sollten sie auch mit Widerstand rechnen," fragt Rosa, die
es endlich begreift, "Bis dato haben wir schließlich gar
keinen geleistet!"

"Ich
hab ‘nen Mordshunger," ertönt es aus der Mitte des Zimmers.
Keine Ahnung, wer das gesagt hat.

"Halt
doch die Klappe", kommt eine andere Stimme. "Das hier ist
wichtig!"

"Daß
wir bestimmt schon seit achtzehn Stunden hier sitzen und gar nichts
zu essen bekommen haben, da scheißt du drauf, oder wie?"

Haben
die denn die Heizung eingeschaltet? Ist doch verdammt heiß
hier.

"Damit
wolln die…" Rogelias Stimme ist wegen des Fernsehlärms
und des inzwischen ganz laut gewordenen Streits kaum zu hören.

"Ruhe!"
schreie ich, "Ruhe jetzt, verdammt nochmal! Darf sie endlich zu
Wort kommen?"

Ich
muß das noch fünfmal sagen, ehe den beiden der Wind
ausgeht.

"Danke!",
sagt Rogelia, "Also, was ich sagen wollte ist, daß die
damit unsere Widerstandskraft schwächen wollen. Der Hunger, der
überfüllte Raum, die Hitze, die Schlaflosigkeit. Bis sie
uns endlich vorführen sollen wir gar keine Kraft mehr haben."

Jetzt
hören wieder alle zu.

Wie
bitte? Was ich als erstes gelesen hab? Kann ich beim besten Willen
nicht mehr sagen, ehrlich. Das ist ja viele Jahre her. Ach,
wahrscheinlich von meiner Mutter. Wie meinen Sie das? Was ich jetzt
gern lese oder als Kind? Ach so. Das wissen Sie bestimmt schon
längst. Meine Wohnung ist zweifellos gründlich durchsucht
worden. Na von mir aus. Simone de Beauvoir, Bakunin, Chomsky…es
wäre doch leichter, sie einfach aufzuschreiben. Ach, natürlich
nicht! Wer will denn schon in
Versuchung
geraten? Wär doch fürchterlich. Das war nur so
ein Vorschlag. Die Bibel? So’n Zeug les ich nicht. Na, weil’s doch
Schwachsinn ist. Für sowas hab ich keine…VERDAMMTE SCHEISSE.
Mensch, das tut weh. Schon gut. Versteh ich schon. Das ist ja
schließlich nicht das erste Mal…

Allgemeines
Schweigen. Alle denken darüber nach, was für Forderungen
wir geltend machen sollten. Keine Ahnung, was daran so schwierig sein
soll.

Angelika
Morelli steht auf, zieht sich ihr Kostüm zurecht, und redet so,
wie sie es vorher bestimmt vor Vorständen und Aufsichtsräten
getan hat.

"Ein
Vetorecht," kündigt sie schließlich an. "Wir
sollen ein Vetorecht in bezug auf die Vormundszuweisung fordern."

"Vielleicht
einfach ein Mitspracherecht. Damit wir dann auch Vorschläge
unterbreiten dürfen," meint noch so eine Konzernanwältin.

"Soviel
gleich auf einmal?" Den Sarkasmus kann ich mir einfach nicht
verbieten.

Rosa
entgeht er aber. "Wir wollen doch nicht zuviel verlangen. Eine
realistische Verhandlungsgrundlage muß geschafft werden."

Von
denen hätte ich wohl nichts anderes erwarten sollen.

"Immerhin
ein Anfang," sagt Rogelia diplomatisch.

"Über
ein paar Dinge sollten wir uns jetzt im Klaren sein," doziere
ich, "Erstens: Mit dieser Aktion setzen wir unsere Leben aufs
Spiel. Zweitens: Es gibt keine zweite Chance. Wenn sie unseren
Forderungen entsprechen, können wir nachher nicht zum Tisch
zurückkehren, wenn wir noch was verlangen wollen, also sollten
wir besser aufs Ganze gehn."

"Aber
müssen wir nicht zunächst einmal den Beweis erbringen, daß
wir bereit sind, vernünftig mit ihnen zu reden?"

"Bullshit
ist das," entfährt es plötzlich Anna, die seit
mehreren Stunden keinen Laut von sich gegeben hat.

"Über
dein Schweigen hatte ich mich doch so unheimlich gefreut!"
mault Rosa.

"Laß
sie reden," sage ich, und überrasche mich dabei selbst.

"Ich
kenne diese Leute, " fährt sie ohne ein Wort an mich fort,
"auf sowas werden sie nicht reagieren."

"Könntest
du das vielleicht ein bißchen ausführlicher erklären?"
fragt Judith.

"Ich
hab mit ihnen…für sie gearbeitet. Ich kenne sie besser als
jede andere hier. Ich weiß, was sie von Frauen halten."

"Vermutlich
nicht gerade viel", unterbricht sie Rogelia mit ihrem schiefen
Grinsen.

"Für
sie sind die…sind wir Kinder, wenn wir überhaupt als
Menschen gelten können, was ja unter denen umstritten ist. Wenn
wir ihnen beweisen wollen, daß wir vernünftig
verhandeln können, haben wir schon verloren…"

"…denn
für die sind wir ja per definitionem irrational,"
fügt Judith hinzu.

"Eben!
Und wir geben ihnen sogar Recht, indem wir nur geringfügige
Änderungen verlangen. Dann heißt es: Die haben selbst
zugegeben, daß sie Vormunde nötig haben. Sonst hätten
die die Abschaffung der Vormundschaft verlangt."

"So
seh ich das auch," pflichte ich ihr bei.

"Und
unser Publikum dürfen wir auch nicht vergessen."

Jennifer
hat recht. Wenn es uns gelingt, mit unserem Streik ins Fernsehen zu
kommen, werden wir zu Vorbildern einer Bewegung. Wenn wir mit
unseren Forderungen weniger als die vollständige
Wiederherstellung unserer Rechte verlangen, werden sich vermutlich
andere danach richten, und diese Ordnung akzeptieren. Wir müssen
ein klares Signal geben: NICHT MIT UNS!

Letzten
Endes stehen unsere Forderungen auf Servietten geschrieben, die
jemand in der Tasche gefunden hat. Irgendwie peinlich.

Die
Liste endet mit einem Aufruf zum Widerstand gegen alle Maßnahmen
"der frauenfeindlichen Verbrecherordnung". Einige haben
eine "neutralere" Formulierung gefordert – "Widerstand
gegen alle in den letzten Tagen erlassenen Rechtsvorschriften,
insbes. das neue Ehe- und Personenstandsgesetz, sowie alle vom
Ministerium für Nationale Wiederherstellung erlassenen
Verordnungen" – aber am Ende hat sich Judith mit ihrem Text
durchgesetzt.

Den
Text soll Anna vorlesen, die es gewohnt ist, vor Fernsehkameras
aufzutreten. Daß ausgerechnet sie diese Forderungen
befürwortet, wird bestimmt einen großen Eindruck machen.

Obwohl
ich mangels Armbanduhr keine genauen Angaben machen kann, ist es
bestimmt schon Mitternacht. Einige versuchen, wenigstens ein bißchen
zu schlafen, aber der inzwischen auf maximale Lautstärke
gedrehte Fernseher macht angemessenen Schlaf so gut wie unmöglich.

Ich
habe inzwischen Hungerschmerzen. Die Wirkung der
Meditationstechniken, die ich für Hungerstreiks gelernt habe,
hält sich in Grenzen. Ist ja halt was anderes, wenn der Hunger
nicht auf einem freien Willensentschluß beruht. Da hat das Gras
bestimmt auch nicht gerade geholfen.

Wie
kannst du denn Hunger haben? Du hast doch gerade eine Lasagna
gegessen. Mit Provolone, Mozzarella, Parmigiano, Basilikum und diesen
köstlichen hausgemachten Nudeln…

Verdammt,
das macht es noch schlimmer!

Anna
kommt zu mir rüber. Die Augen kann sie kaum aufhalten.

"Paß
ma auf," sagt sie nach mehreren Seufzern, "ich wollte dir
nur sagen, daß es mir leid tut…"

Anna
Koulakow entschuldigt sich? Es gibt doch noch Zeichen und Wunder!

"Ich
hätte dich nicht anspucken sollen. Und was ich über
dich…und deine Partei…so im Fernsehen gesagt hab…Das war
einfach…"

"
‘Horde randalierender Unweiber’ hab ich besonders gut gefunden,"
lächele ich.

"Das
war einfach total daneben. Und daß ich mich bei den Leuten
angebiedert habe,…daß es solche Auswirkungen hätte…"

"Schon
gut, schon gut. Ich hätte dich auch nicht so beschimpfen sollen.
Meine Wut habe ich auf die falsche Person ausgetragen. Du hattest
recht. Wir haben’s nicht verhindert…"

"Aber
ich hab diese Entwicklung aktiv begünstigt."

"Übertreib’s
doch nicht. Wenn du dich nicht zur Verfügung gestellt hättest,
hätten die bestimmt ‘ne andere gefunden, wenn auch nicht mit
deinem Talent."

"Ich
wünschte mir, ich könnte es alles wiedergutmachen, alles
rückgängig machen…"

"Wenn
du unseren Text so gut rüberbringst wie damals diese ganze
antifeministische Hetze, dann wirst du schon den Schaden
wiedergutgemacht haben."

Wir
schauen einander in die Augen, und denken uns dabei bestimmt
dasselbe:

Daß
ich ausgerechnet mit ihr gemeinsame Sache mache. Sachen gibt’s!

Nach
ein paar Minuten Schweigen sagt sie, "Ich glaube, ich weiß,
wie lange wir noch warten müssen…"

"Echt?"

"Ja.
Ich denke seit mehreren Stunden drüber nach." Gähnen.
"Also, die wollen sich bestimmt die höchstmögliche
Zuschauerquote sichern."

Ich
nicke.

"Adressaten
dieser ganzen Veranstaltung sind doch die Frauen, nich?"

"Klar."

"…die
eh schon den ganzen Tag zu Hause sein werden."

"Arbeiten
gehn tun die eh nicht mehr."

"…und
ohne Geld können die auch nicht einkaufen oder essen gehn."

"Genau."

"Deshalb
vermute ich, daß die Sendung gegen Mittag ausgestrahlt wird. Da
sind die meisten längst wach und trinken Kaffee im Wohnzimmer."

"Kann
gut sein."

"Noch
zwölf Stunden also. Wahrscheinlich ein bißchen weniger.
Wir müssen ja alle fernsehklar sein, und das dauert."

Noch
zwölf Stunden also. Klingt wie eine halbe Ewigkeit.

Schweigen.
Wahrscheinlich ist uns allen die Energie ausgegangen. Ich stehe mit
Anna vor dem Fenster, und wir schauen zusammen zum Mond hinauf.
Draußen scheint’s ganz ruhig. Hier in der Stadtmitte ist
normalerweise rund um die Uhr was los. Die haben vermutlich eine
Polizeistunde verhängt. Ich hasse es, von der Außenwelt
abgeschottet zu sein. Vor ein paar Stunden hat eine versucht, den
Kanal zu wechseln. Ging aber nicht. Es gibt keine Knöpfe, mit
denen wir ihn bedienen könnten. Es wiederholen sich immer
dieselben Sendungen. Gebetsstunde für die Frau, die
Predigt des Präsidenten, die vermutlich heutige Fernsehansprache
des Präsidenten, und zwei oder drei weitere religöse
Sendungen, deren ausnahmslos männliche Moderatoren offenbar
nichts anderes zu tun haben, als Frauen zu belehren.

Eine
ununterbrochene Wiederholung von Phrasen und Parolen. Väterliche
Obhut…Blutopfer am Altar des Feminismus…Rückkehr zur
natürlichen Lebensart…der Weg Gottes…die göttliche
Weiblichkeit…volksfeindliches
Emanzentum…Ordnung…Frieden…Jetzt seid ihr frei…die Freuden
des christlich verwalteten Haushaltes…

Das
kann ich nicht mehr hören. Ich krieg langsam Kopfschmerzen. Das
Fernsehgerät würde ich liebend gern zum Fenster
rausschmeißen. Wir sind im 15. Stockwerk. Das Teil ist einer
dieser alten, schweren Fernseher. Wenn’s nicht um Überwachung
geht, ist unsere Justiz eben nicht gerade auf dem neuesten Stand der
Technik. Das gäbe einen schönen Knall. Könnte für
Aufmerksamkeit sorgen, wenn die Polizeistunde schon mal vorbei ist.

Ich
sehe mich wieder im Zimmer um. Einigen ist offenbar ein Nickerchen
gelungen.Andere sitzen einfach da, starren sprachlos vor sich hin.
Jennifer weint im Schweigen. Anna schaut auf den Fußboden.
Judith betrachtet mit nachdenklicher Miene den Fernseher. Rogelia
hängen die Lider schlaff, aber ihre Augen funkeln. Ob meine noch
funkeln? Ich hätte gern einen Spiegel. Wie sehe ich jetzt wohl
aus? Vermutlich wie eine erschöpfte, halb verhungerte 45jährige
Ex-Juristin, deren Leben und Freiheit von einem ziemlich gefährlichen
Schachzug abhängen. Auf gutes Gelingen also!

Was
habe ich gestern noch alles gemacht? Um ca. 8 Uhr aufgestanden.
Kaffee getrunken. Packung Kippen gekauft. Am Schriftsatz für
diese Asylsache rumgeschrieben. Eine für heute geplante
gemeinsame Kundgebung mit der Facharbeitergewerkschaft organisiert.
Paar Erörterungstermine vor dem Bezirksgericht. Dann hab ich
nachher im Aktenkoffer eine merkwürdige Nachricht von Herrn X,
meinem Kontakt im Ministerium, gefunden.

HALB
2 FRÜH VOR DER ALTEN DRUCKEREI

ÄUSSERST
WICHTIG!

Dann
habe ich ein paar Honorarschecks auf mein inzwischen eingefrorenes
Konto eingezahlt. Flasche Rotwein gekauft. Mir was zum Abendessen
zubereitet. Beim Essen die Auslandspresse gelesen.

Ein
stinknormaler Tag also, bis auf diese Nachricht. Nichts als
Selbstverständliches. Was wird ab morgen selbstverständlich
sein, wenn uns diese Aktion nicht gelingt? Wo werde ich wohnen? Was
werde ich jeden Tag machen? Werde ich meine Sachen mitbringen dürfen?
Meinen Luxemburg-Band möchte ich nicht missen. Werde ich diese
Kolleginnen jemals wiedersehen? Keine Ahnung. Fragen bringt eh
nichts.

Merkwürdig.
Indem sie uns so entrechtet und
entmündigt haben, sind neue gemeinsame Interessen entstanden.
Wir gehören keiner Klasse mehr an, keinem Stand. Wir haben kein
Geld, kein Vermögen, keine Privilegien mehr. Diese neue Ordnung
hat unter uns die tatsächliche Gleichheit herbeigeführt. Da
kann ich nur lachen.
Von heute auf morgen haben die für
mehr als die Hälfte der Bevölkerung den Kapitalismus
abgeschafft. Soviel haben wir in mehr als 100 Jahren nicht geleistet
.

Wird
diese neuentstandene Solidarität auch der bevorstehenden harten
Prüfung standhalten? Die möglichen Bruchstellen sind klar
genug. Diese Konzernanwältinnen machen mir große Sorgen.
Ihre Elitestellung haben sie vor allem ihrem großen
Anpassungsvermögen zu verdanken. In der Schule haben sie sich
immer bei ihren Lehrern angebiedert. Sie wurden Klassenbeste. An
ihren Elite-Unis wußten sie immer intuitiv, was die Dozenten
und Professoren hören wollten. Sie haben mit besten Noten das
Studium abgeschlossen. Beruflich haben sie immer den richtigen
gefallen, und wurden deshalb rasch befördert.

In
Sachen Widerstand sind die gänzlich ungeübt. Sie haben sich
stets nach den Bedürfnissen der Machthaber gerichtet. Heute
haben sie das meiste verloren, und haben sich doch am schnellsten
damit abgefunden.

Was
tun, wenn die sich gleich ergeben?

Eine
sehr gute Frage, die ich nicht beantworten kann.

"…ist
die freudige Unterordnung euer Weg. Die Männer sind eure
naturgemäßen Führer. Ohne sie habt ihr
Schwierigkeiten ohne Ende. Mit ihnen sind Sicherheit, Schutz,
Komfort, Stabilität, und Sorgenfreiheit garantiert…"
ertönt es aus diesem verfluchten Fernseher.

Ich
setze mich wieder neben Judith.

"Vom
Mann im orangefarbenen Anzug sollen wir uns also Vorträge halten
lassen. Köstlich!"

"Er
schützt dich vor der Ellenbogenwelt des Berufslebens. Er befreit
dich von allem, was dich von deinen naturgemäßen Aufgaben
als Ehefrau und Mutter abhält. Die Träume deiner Kindheit
werden damit endlich Wirklichkeit!"

"Eins
muß ich schon sagen," seufzt Judith, "die kennen ihr
Publikum."

Ich
nicke nur. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

"Scheiße,
verdammte!" meldet sich plötzlich eine Stimme aus der Mitte
des Zimmers. Ich glaube, sie gehört der Frau, die sich vorhin
über ihren Hunger beklagt hat. "Wie konnt ich denn so blöd
sein?!"

Sie
ist so ziemlich die einzige in diesem Zimmer, deren Gesicht ich
überhaupt nicht kenne. Sicherlich keine Konzernanwältin.
Ihr Kostüm ist zwar ganz schön, hat aber höchstens
$300 gekostet. Ihre elegant gekämmten Haare und ihr geschminktes
Gesicht verraten mir, daß sie nicht im Bett oder in der Dusche
erwischt wurde.

Bürokratin
oder sowas ähnliches.

Langsam
kommt sie auf mich zu.

"Was
ist denn?" frage ich sie.

"Wie
konnte mir das entgehen?"

"Was
denn?"

Die
Bürokratin heißt Kimberly Schmidt-Hoffmann. Nach ihren
Angaben stand sie zuletzt im Solde des Ministeriums für
Staatssicherheit. Seit zwei Jahren seien ihr konspirative
Besprechungen aufgefallen.

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I Die Stunde Null Kapitel 6

Teil I-Die Stunde Null-Kapitel 5

Eine
etwas jüngere Frau kommt von ganz hinten auf uns zu. "Frau
Professor Prats! Sind Sie das?"

"Die
hatte bei mir Feministische Judikatur," flüstert mir
Rogelia ins Ohr, "keine Ahnung mehr, wie die heißt."

Die
junge Frau ist höchstens 25 Jahre alt. Vermutlich hat sie gerade
diesen Sommer ihren Abschluss gemacht und paukt seither fleißig
für das Zulassungsexamen.

"Sind
Sie nicht Dr. Olivetti?" fragt sie mich, "ich hab grad
angefangen, Ihr Buch zu lesen!"

"Unter
den Umständen kannst du mich gern mit Andrea anreden. Mein Titel
ist derzeit nicht gerade viel wert, und mein Buch wird’s
wahrscheinlich auch nicht mehr lange geben. Du hättest es doch
mitbringen sollen. Mit Autogramm könnte so eine Letztauflage
viel wert sein."

"Also,
es ist mir halt ‘ne richtige Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.
Einfach genial."

Das
hat mir gerade gefehlt. Die Kleine versteht rein gar nichts. Glaubt
sie etwa, daß wir auf einem Kongreß seien? Daß das
hier ein Vorstellungsgespräch sei? Sie schwätzt weiter und
ich nicke ihr alle paar Sekunden höflich zu. Selbst unter
normalen Umständen kann ich diese Ehrerbieterei kaum ausstehen.
Im Hier und Jetzt klingt es nur noch nach Hohn und Spott. Dem
Gelabber entnehme ich, daß sie Jennifer Biermann heißt
und seit dem Abschluß bei einem Bundesrichter als Referendarin
arbeitet.

"Sehr
angenehm", sage ich.

Ich
weiß nicht, wer mir mehr leid tut. Die versammelten Kolleginnen
und Richterinnen, deren jahrelanger beruflicher Aufstieg einfach so
für nicht existent erklärt worden ist, oder dieses Mädel,
das nie so richtig wissen wird, was es verloren hat. Eigentlich
beneide ich sie sogar darum. Sie hatte viel weniger zu verlieren.
Geld hatte sie eh nicht. Studenten sind immer pleite. Ein eigenes
Haus hatte sie auf keinen Fall. Studentenwohnheim oder irgendso eine
ghettomäßige Wohnung im Univiertel. Wenn sie nicht immer
noch bei ihren Eltern wohnt. Sie hat nur ihre Schulden zu verlieren.
Alles andere hatte sie noch gar nicht. Schwein gehabt.

Rogelia
fällt nichts anderes zu sagen ein als "Jennifer, es tut mir
so unendlich leid."

Aber
Jennifer hört kein Wort. Stattdessen erzählt sie von ihrem
Referendariat. Urteile verfassen, Dokumente analysieren, Schriftsätze
lesen, sogar recherchieren. Es macht ihr alles sehr viel Spaß.
Ihr Richter habe ihr neulich gesagt, daß ihre Analyse für
eine seiner Entscheidungen maßgeblich gewesen sei. Ihren Stolz
kann ich ihr gar nicht übelnehmen. Ich weiß selber noch,
wie das damals war, als ich mich zum allerersten Male wie eine
richtige Juristin gefühlt habe. Aber das halte ich nicht mehr
aus.

"Jennifer,"
unterbreche ich sie sanft, "also, ich weiß nicht, wie ich
das sagen soll. Das ist absolut nichts gegen dich. Wirklich. Es freut
mich, daß dir mein Buch so gut gefällt, und daß dir
dein Referendariat Spaß gemacht hat. Sehr sogar. Und daß
es dir ‘ne Ehre ist, mich kennenzulernen, will ich dir auch nicht
nehmen." Seufzer. "Aber ich frag mich langsam, ob dir
eigentlich klar ist, was hier läuft."

"Ja,"
erwidert sie. Ich schaue ihr in die Augen und lege ihr meine Hand auf
die Schulter. "Und ich hab da eine Idee, wie wir das anfechten
können. Ich glaube, daß eine negative Feststellungsklage
der geeignete Weg ist. Wir verlangen einfach eine gerichtliche
Feststellung, daß diese Behandlung einen Verstoß sowohl
gegen die Verfassung als auch gegen einfaches Bundesrecht darstellt.
Mit einer einstweiligen Verfügung kriegen wir dann
zwischenzeitlich wieder Zugang zu unserem Vermögen." Zum
Schluß lächelt sie uns stolz an.

Jetzt
heule ich wieder. Rogelia kniet zu mir nieder, und zwischen
Schluchzern sage ich ihr "Gar nichts versteht sie, rein gar
nichts!"


Jennifer
errötet und schaut weg. Ob es daran liegt, daß sie die
Situation endlich begreift? Oder fühlt sie sich bloß von
mir gedemütigt?

"Jennifer,
hör mal zu." Ich will sie schließlich nicht
angreifen. Vielleicht macht sie nur auf tapfer, weil sie vor sovielen
Kolleginnen keine Angst eingestehen will. Kann ich auch verstehen.
"Ich möchte dem soeben Gesagten noch was hinzufügen.
Hörst du mir zu? Deine Analyse der rechtlichen Gesichtspunkte
ist zutreffend. Auf die Idee einer Feststellungsklage in Verbindung
mit einem Antrag auf EV war ich auch gekommen. Grundsätzlich
halt ich das eben für den richtigen Weg."

Jetzt
hört sie wieder zu. Sie lächelt sogar ein bißchen.
Mensch, die ist so verdammt jung!

"Echt
jetzt?"

"Ja.
Ganz ehrlich. Ich vermute, daß die Hälfte der hier
Anwesenden die rechtlichen Gesichtspunkte genauso gewürdigt
hätte. Du warst bestimmt eine verdammt gute Referendarin, und
wärst wahrscheinlich auch noch eine hervorragende Anwältin
geworden. Vielleicht wirst du’s noch, wenn diese jetzige Schweinerei
hinreichend kurzlebig ist. Na, Rogelia?"

"Ganz
deiner Meinung," pflichtet sie mir bei.

"Also,
die Gerichte sind nie hundertprozentig unabhängig. Sie werden
von allgemeinen sozialen Tendenzen und Machtkonzentrationen
beeinflusst. Ist dir wohl auch klar, ne? Im Augenblick ist uns
deshalb der Rechtsweg völlig versperrt. Ich weiß nicht,
wieviel du davon schon mitgekriegt hast, aber Frauen sind hierzulande
nicht mehr prozeßfähig. Wir können nicht einfach
unsere Rechte einklagen, wie wir’s gestern noch getan hätten.
Denn diese Rechte haben wir nicht."

Jennifer
sagt kein Wort. Sie nickt mir nur zu. Jetzt versteht sie, worum’s
geht.

"Das
heißt aber nicht, daß es gar keinen Ausweg gibt. Einen
Ausweg wird es schon geben.
Wir müssen uns halt was
einfallen lassen."

"Verstehe."

"Aber
fürs erste hör bloß auf, mich zu Siezen. Das tut weh
und hilft gar nicht. Wir dürfen uns nicht einbilden, daß
wir unter normalen Umständen hier sind."

Rogelia
holt etwas aus der Jackentasche. Auf den ersten Blick sieht’s aus wie
eine Zigarette. Während sie es anzündet, merke ich aber,
daß es eine Tüte ist. Mensch, das riecht aber schön.

"Darf
ich mal dran ziehn?" frage ich.

Juana,
bis heute stellvertretende Staatsanwältin, schaut uns dabei zu.
Rogelia reicht mir die Tüte. Das tut gut. Sehr sogar.

"Danke",
mault Juana. "Ganze fünf Minuten hatte ich vergessen, was
heut passiert ist."

Dabei
hatte ich vergessen, daß wir in Anwesenheit der für
Betäubungsmitteldelikte zuständigen Staatsanwältin
kiffen.

Merkwürdig,
denke ich, früher
hab ich bei ihrem Anblick immer nur die Staatsmacht gesehen. So
schnell hat sich mein mentales Bild von ihr ihrer neuen
Rechtsstellung angepaßt.

Ich
wende mich lachend an Rogelia.

"Rechtsstellung",
sag ich ihr, "köstliches Wort. Ganz passend."

"Was?"
fragt sie, während sie mir die Tüte abnimmt.

"Rechtsstellung,"
erwidere ich, "Rechts. Stellung. Recht und Stellung."

""Du
redest wirres Zeug. Ich glaub, du hast schon genug gekifft."

"Recht.
Stellung. Siehst du’s nicht? Die haben das Recht, und
gebrauchen es dazu, uns dort hinzustellen, wo sie uns haben
wollen."

Jetzt
lacht sie auch, obwohl meine Bemerkung gar nicht so witzig war.

Die
ehemalige stellvertretende Staatsanwältin für BtM-Delikte
Juana Álvarez sagt nur, "Gib ma her!"

Zum
erstenmal in einer ganzen Weile meldet sich auch Judith zu Wort.

"Ob
unser lieber Präsident es sich so vorgestellt hat? Eine
Rechtsanwältin und eine Professorin kiffen mit einer
Staatsanwältin in Gegenwart einer Strafrichterin!"

"Von
der Verfolgung werdet ihr doch absehen, oder?" fragt Rogelia.

"Als
Tatzeugin und Mittäterin müßten wir uns eh ablehnen,"
lacht sie. Ist das Bitterkeit? Egal. Mit einer Geste macht Judith
Henkel, Richterin der 1. Strafkammer, klar, daß auch sie sich
an der Tat beteiligen möchte.

"Bittesehr,"
sagt Rogelia, die inzwischen Riesenpupillen hat.

"Hab
seit den frühen Neunzigern nicht mehr gekifft," sagt sie
voller Reue.

"Das
sind dreißig Jahre!" entfährt es mir.

"Wißt
ihr," redet Judith weiter, "ich hab so vieles aufgegeben,
auf so vieles verzichtet, nur um mir diese Scheiß-Richterlaufbahn
zu sichern."

"Hat’s
sich auch gelohnt?" fragt Juana.

"Mann
ey, warum habt ihr mir nicht erzählt, daß ich so große
Hände hab?!" sage ich.

"Das
Kiffen. Das Schreiben. Mein politisches Engagement. Wißt ihr,
ich war damals auch total links drauf. Hatte sogar ein Manifest
verfaßt. Hab alle Kopien davon vernichten lassen, als mir klar
wurde, daß das meine Chancen gefährden könnte."

"Judith,
das wußte ich gar nicht!"

"Dann
hatte ich eben Erfolg mit meinen Säuberungsmaßnahmen!"
faucht sie.

Juana
zieht wieder an der Tüte.

"Du
hattest Recht, Andrea. Du hattest schon immer Recht."

"Das
freut mich," lächele ich. "Geht’s auch etwas
konkreter?"

"Wegen
unserer Anklagepraktiken. Du hattest immer unterstellt, daß
deine Mandanten eigentlich wegen ihrer politischen Einstellung
angeklagt wurden. Ich habe immer gelogen. Eine unglaubliche
Unterstellung! Einfach unerhört!
Immer so ‘n Scheiß.
Dabei hattest du immer Recht."

"Jetzt
ist es eh scheißegal."

"Habt
ihr euch schon gefragt," gibt Jennifer in die Runde, "wie
unser Leben jetzt aussehen wird?"

"Och,
keine Ahnung," sage ich. "Für euch ist es viel
leichter abzusehen, für dich und Rogelia, mein ich."

"Wieso?"

"Du
ziehst wieder zu deinen Eltern und sie zieht wieder zu ihrem
ehemaligen Ex-Mann."

"Wobei
er eigentlich ein ganz netter Kerl ist," fügt letztere
hinzu, "wir haben uns nur scheiden lassen, weil ich ‘ne Lesbe
bin."

"Ich
aber habe nie geheiratet. Mein Vater ist tot, und ich habe gar keine
männlichen Anverwandten, die noch leben. Somit liegt’s im
Ermessen des Gerichts, bei wem ich lande. Wie mein Leben aussehen
wird, wird drauf ankommen, wen ich als Vormund verpaßt bekomm."

Die
Tüte ist bald zu Ende. Draußen wird’s schon dunkel.

"Im
neuen EPsG heißt es, daß das Nähere von einer vom
Wiederherstellungsministerium zu erlassenden Verordnung geregelt
wird. Die hab ich leider nicht sehen können. Selbst mein Kontakt
im Ministerium wußte nur, daß es die gibt."

"Einen
Kontakt im Ministerium hast du?" fragt Jennifer, die mich jetzt
anglotzt, als ob ich neben all dem anderen Zeug auch noch
Superspionin wäre.

"Ihm
lag viel daran, daß keiner erfahren sollte, daß er schwul
ist. Also hat er sich auf einen Handel eingelassen."

"Das
ist Erpressung," grinst Juana, "Beamtenerpressung sogar!"

"Ich
plädiere auf entschuldigenden Notstand."

"Dem
Antrag wird stattgegeben," lacht Judith.

Obwohl
wir lachen, haben wir alle Trauer im Blick. Gestern noch hatte Juana
das Recht, anzuklagen, ich, das Recht zu plädieren, und Judith
das Recht, zu entscheiden. Heute spielen wir nur.

"Wißt
ihr," jetzt sieht sie aus, als stünde sie kurz vor einer
Epiphanie, "mit der bestehenden Ordnung habe ich mich komplett
abgefunden. Ich hab mich total angepaßt. Linke als "Spinner"
bezeichnet und es dabei sogar wirklich so gemeint. Für die Büros
deiner Partei, Andrea, habe ich sogar einen Durchsuchungsbeschluß
erlassen. "Verdacht der Bildung einer terroristenbegünstigenden
Vereinigung" stand als Begründung. Ich bin einfach
mitgelaufen. Jetzt frag ich mich…"

"Das
brauchst du mir nicht zu erzählen, Judith," sage ich
während ich meine Hand auf die ihre lege. "Ist schon gut."

"Nein,
nein. Es tut gut, dir das zu gestehen. Ich schäme mich. Total
verlogen bin ich. ‘Ne Anpasserin."

"Diesem
System willst du dich aber auf gar keinen Fall anpassen,"
meint Rogelia.

"Naja,…"

"Naja
was," frage ich, ein bißchen beängstigt.

"Vielleicht
ist das genau, was ich jetzt brauche. Ein Richtungswechsel. Womöglich
ist dies meine große Chance…ich könnte wieder mit dem
Schreiben anfangen…"

"Darauf
würd ich mich nicht verlassen, Judith. In ein paar Jahren –
nachdem sich schon längst alle mit dieser Ordnung abgefunden
haben – kommt ein generelles Lese- und Schreibverbot. Veröffentlichen
dürfen wir schon jetzt nichts mehr."

"Das
werden wir aber nicht mit uns machen lassen!" gibt Jennifer zu
Protokoll.

"Warum
nicht?" wieder Rogelia, "bisher haben wir so ziemlich alles
mit uns machen lassen."

Schweigen.

"Na,
alle mal herhören!" redet sie weiter, "wer auch nur
ernsthaft darüber nachgedacht hat, sich aktiv zur Wehr zu
setzen, soll sich melden!"

Nochmal
von vorne? Hab ich nicht schon genug dazu gesagt? Schon gut, schon
gut. Das wird doch nicht nötig sein! Also. Nochmal von vorne.
Mein Entschluß, Rechtsanwältin zu werden, beruhte darauf,
daß ich meine Kampfgenossinnen und -genossen vor der
Staatsmacht schützen wollte. Es gab ja immer Massenverhaftungen,
als wir demonstrierten. Da wollte ich…Weil mir schon damals klar
war, daß diese Gesellschaftsordnung auf Ausbeutung und
Unterdrückung basierte und….
Verleitet
hat mich dazu kein Mensch! Zu diesen Erkenntnissen bin ich
selbständig gelangt. Ohne Fremdeinwirkung, wie Sie das so schön
formulieren. Och, vieles hab ich schon selber beobachtet.
Polizeiliche Gewalt. Hungerlöhne. Massenarmut. Die Zerstückelung
des Sozialwesens. Wie bitte? Ja, gelesen habe ich auch einiges zum
Thema. Ich lese schon seit meiner Kindheit sehr gern. Was einsehen?
Sie reden dummes Zeug. Na, da wir grad dabei sind, wer hat
Sie
denn dazu verleitet, Handlanger der Staatsmacht zu werden?
Muß das denn sein? Ich denk, wir wollen vernünftig
miteinander reden! Na kommen Sie schon! Das wird doch gar nicht
erforderlich sein…AU! SCHEISSE! Glauben Sie denn wirklich, daß
ich diese Methoden nicht kenne? Daß dies mein erstes Verhör
ist? Okay, von mir aus, dann
Beichte.
Könnten wir das nicht später fortsetzen? Ich hab
seit anderthalb Tagen nicht mehr geschlafen. Jetzt hab ich’s kapiert!
Das wird ‘n Propagandastreifen. Deshalb soll ich nicht sichtbar
verwundet sein…Das muß ja freiwillig aussehn, damit keiner
auf die Idee kommt, daß mich jemand dazu
verleitet
haben könnte, ne? Okay. Schon gut. Verdammte
Scheiße….ich glaub, Sie haben mir ‘ne Rippe gebrochen. Sie
sollten mich untersuchen lassen. Könnte glatt passieren, daß
mir ‘ne Lunge platzt. ‘Ne Leiche wird Ihrer Sache nicht gerade
helfen.

"Kolleginnen!"
ruft Rogelia nochmal allen Anwesenden zu. "Habt ihr meine Frage
nicht gehört?"

"Kolleginnen,
alle mal herhören!"

Keine
Reaktion. Einige flüstern weiter, andere betrachten reglos den
Fußboden.

"Mädels!"

Jetzt
hören sie zu. So weit sind wir also schon!

"Meldet
euch bitte, wenn ihr auch nur ernsthaft darüber nachgedacht
habt, euch aktiv zur Wehr zu setzen. Wer von euch ist auf eine
solche Idee gekommen?"


Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I-Die Stunde Null-Kapitel 5

Teil I: Die Stunde Null: 4 Kapitel

"Das
ganze war wohl als Überraschung gedacht. Es liegt vermutlich
daran, daß niemand darauf vorbereitet war. Auch in der Partei
haben wir uns natürlich Gedanken gemacht über die Predigt
und den ganzen Scheiß, aber daß auf einmal sowas kommt,
damit hat niemand gerechnet."

Die
Partei.
Wie geht’s denn damit
weiter? Wir müssen schleunigst den Kontakt zueinander suchen.
Wie wir aber unter diesen Umständen beraten können, habe
ich keinen blassen Schimmer. Sowohl das Festnetztelefon als auch mein
Handy haben die Herren "in Verwahrung genommen". Im
Endeffekt egal, denn unsere Telefonate werden schon seit Jahren
abgehört.

Julia
hat mir eine Frage gestellt, die ich nicht gehört habe. Nur noch
acht Minuten. Hier darf sie nicht erwischt werden. Zu gefährlich.

Das
sachlich-professionelle Sie lasse ich nun beiseite. "Du Julia,
hör mal. Jeden Augenblick kommen die rein, um mich abzuführen.
Du mußt dich aus dem Staub machen."

"Verstehe.
Ich bin dir sehr dankbar, Andrea, daß du mich unter solchen
Umständen empfangen hast."

Plötzlich
umarmt sie mich, freundschaftlich, vertrauensvoll. Hier gibt es
schließlich keine Anwalt-Mandant-Beziehung mehr. Das tut gut.
"Paß auf, du hast noch eine Woche Zeit," flüstere
ich ihr ins Ohr, "an deiner Stelle würde ich untertauchen.
Versuche, mit einem Genossen namens Robert K. Kontakt herzustellen.
Der steht im Telefonbuch. Sag ihm, wo ich bin, und daß ich dich
zu ihm geschickt hab. Wenn dir jemand helfen kann, dann er. Jetzt
nichts wie weg!"

Als
die beiden die Tür aufmachten, war Julia bereits im Klo. Zum
Glück haben die das Büro nicht durchsucht.
Die
paar Tausend mehr für schalldichte Türe und Wände
waren’s wert,
denk ich mir,
während mich die beiden zum wartenden Streifenwagen begleiten.
Meine Hände stecken wieder in Handschellen. Zu dritt fahren wir
schweigend durch die Innenstadt, Richtung Justizzentrum.

Jede
Menge Bullen draußen.
Die
Sturmgewehre sind auch neu. Ansonsten sieht die Innenstadt halbwegs
normal aus. Bis auf die lesbische Buchhandlung in der Republic
Street. Das Schild ist weg. Die Scheibe ist eingeschmissen worden.
Draußen steht ein Lkw, den zwei Bullen mit Büchern
beladen. Mit den beiden Besitzerinnen bin ich gut befreundet. Ich
frage mich, wie es ihnen jetzt geht.
Bloß nicht dran
denken. Du hast selber schon genug Ärger.

Der
Wagen hält vor dem hinteren Eingang, wo die in U-Haft
befindlichen Angeklagten und Angeschuldigten sonst immer unter
polizeilicher Überwachung reingehen. Wieviele Mandanten habe ich
durch diesen Eingang begleitet? Hunderte, vermutlich. Der etwas
jüngere, größere Beamte mit der Glatze steigt mit mir
aus.

"Wo
gehen wir jetzt hin?"

"Ruhe
jetzt! Blick nach unten!"

Normalerweise
hätte ich eine angemessen sarkastische Antwort parat. Heute
gehorche ich nur. Er flüstert kurz mit einem Paar bestiefelter
Füße, die vor dem Eingang stehen. Dann kommt er wieder zu
mir herüber.

"Los!
Rein mit dir!" Sein Duzen nehme ich, wie alles andere,
schweigend hin. Wir steigen in den Fahrstuhl. Welchen Knopf er
drückt, kann ich nicht sehen. Zur Haft vielleicht? Oder gleich
ins Gericht?
Abwarten.

Nach
dem Aussteigen sehe ich als erstes den Marmorfußboden. In der
U-Haft sind wir also nicht. Da ist alles aus Stahl und Beton. Ich
höre Männerstimmen, aber sie sind zu leise, um
herauszukriegen, was sie da sagen. Ich sehe, wie er eine Tür
aufmacht. Er schubst mich hinein und verriegelt sie wieder.

Diesen
Raum kenne ich doch. Hier tagt das große Geschworenengericht.
Die Untersuchungsgeschworenen. Überall verängstigte
Frauengesichter. Einige kenne ich. Ganz vorne sitzt Judith Henkel,
bis heute Richterin in der ersten Strafkammer. Hinten sehe ich
Angelika Morelli, Leiterin der Rechtsabteilung eines mittelgroßen
Konzerns hier in der Stadt. Der bin ich mehrmals vor Gericht
begegnet. Damals

ach,
so lange ist es doch nicht her!

war
sie der Albtraum eines jeden Klägervertreters. Heute flüstert
sie Unverständliches mit der Frau, die neben ihr sitzt. Alles
Juristinnen, merke ich. Oder ehemalige Juristinnen. Ich setze mich
neben Richterin Henkel. Vor Gericht haben wir uns immer gut
verstanden. Ihre Einstellung zur bürgerlich-kapitalistischen
Rechtsordnung habe ich schon immer völlig verkehrt gefunden,
aber in ihrer Prozeßführung war sie immer ganz fair.

"Hier
sitzt wohl die halbe Anwaltskammer!" flüstere ich ihr zu.

"Zweiunfünfzig
prozent, den letzten Daten zufolge," korrigiert sie mich.

"Wie
lange sitzen Sie schon hier, Frau Vorsitzende?"

"Judith.
Ich bin seit zehn Stunden keine Richterin mehr, und du darfst nicht
mal dich selbst vertreten", schimpft sie. "Ich glaube, ich
bin schon seit fünf Stunden hier. Keine Ahnung, wie lange das
dauert."

Plötzlich
meldet sich der Fernseher zu Wort. Eine dieser religiösen
Sendungen.
Gebetsstunde für die Frau,
oder wie der Mist heißt.

"Wer
hat denn die Glotze eingeschaltet", frage ich in die Runde.

Niemand
will es gewesen sein. Vermutlich liegt die Fernbedienung bei den
Wächtern draußen.

"Wie
geht’s Ihnen denn, Judith?" Ich kann mich beim besten Willen
nicht dazu bringen, sie zu duzen.

"Wie
soll’s mir denn gehen? Heute morgen saß ich im Büro, trank
Kaffee und las ein paar Schriftsätze, Anträge, über
die ich noch entscheiden mußte. Da kamen diese beiden
bewaffneten Typen bei mir angetanzt. Nicht mal geklopft haben die!
Einer richtete sein Gewehr auf mich, während mir der andere die
Robe vom Leib riß."

"Bei
mir war’s ähnlich," pflichtet ihr die nebenan sitzende
stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Juana Alvarez bei.

"Mich
haben die zu Hause erwischt," sage ich.

"In
den heiligen Schriften steht, sei dem Manne in allen Dingen
untertan," gibt der Mann im Fernseher zum besten. "Wenn ihr
euch von den naturwidrigen Rollen trennt, die euch diese verkommene
weltliche Satansgesellschaft zugemutet hat, handelt ihr im Sinne des
Herrn. Ihr werdet eine große Freude empfinden, denn ihr habt
den Weg des Herrn eingeschlagen!" Er legt hier eine Pause ein.
Vom Publikum kommt kein Applaus. Die vor ihm sitzenden Frauen
schweigen weiter.
In Ecclesiam taceant, oder
so ähnlich.

"Dem
Herrn würd ich viel lieber
den Schädel einschlagen," entfährt es mir.

"Judith,
Juana, habt ihr vielleicht Jeanne Eriksen gesehen?"

Beide
schütteln verneinend den Kopf. Vermutlich ist sie noch nicht
eingeliefert worden. Vielleicht ist ihr sogar die Flucht gelungen.
Jeanne Eriksen ist Verfassungsrechtlerin und derzeit Sprecherin des
parteiinternen Juristenkollektivs.

Dann
merke ich, daß hinter mir ausgerechnet Anna Koulakow sitzt. Sie
ist (war) zwar als Rechtsanwältin zugelassen, hat sich vor
Gericht aber nie blicken lassen. Stattdessen ist sie dauernd im
Fernsehen aufgetreten, um gegen den "totalitären
Feminismus" zu hetzen. Den Anarchosyndikalistischen Frauenbund –
meine Partei – hat sie sogar als "fünfte Kolonne der
terroristischen Erzfeinde unseres Vaterlands" bezeichnet. Vor
ein paar Jahren hat sie für allgemeine Aufregung gesorgt, als
sie die Abschaffung des Frauenstimmrechts forderte, weil Frauen nur
für Blödsinn wie Kinderkrippen, Krankenhäuser, Schulen
und so ihre Stimme abgeben. Abgesehen von ihr selbst, versteht sich.
Da ist mein Mitgefühl maßlos überfordert.

Ich
bedenke sie mit einem hasserfüllten Grinsen. "Na, wie
findest du die, diese neue Ordnung?"

Sie
schweigt weiter. Ich sehe Tränenspuren.

"Du
hast dir damals den Mund ganz vollgenommen. Und jetzt darfst du dich
verstanden fühlen, was? Na, freu dich doch! Du hast es
geschafft!"

Jetzt
schaut sie mir direkt in die Augen. "Leck mich doch, du rote
Fotze!"

Mein
Grinsen wird noch breiter. So kenne ich sie. Im Fernsehen hatte sie
für jeden den geeigneten Schimpfnamen. Fast korrigiere ich sie:
Schwarz-rot, du Lump!,
dann fällt mir aber was besseres ein.

"Dich
lecken? Gilt das unter euch nicht als Sittenbruch? Und du hast dich
grad der Anstiftung schuldig gemacht! Einfach köstlich ist das!"

Anstatt
zu erwidern, spuckt sie mir einfach ins Gesicht. Judith Henkel legt
mir die Hand auf den Arm, um mich zu beruhigen.

"Es
tut mir leid, Frau Vorsitzende," sage ich, etwas ruhiger, "aber
mir ist der Anblick dieser miesen Verräterin einfach zum
Reihern."

"Kann
ich schon verstehen. Aber jetzt sitzt sie genau so in der Scheiße
wie wir."

"Ihre
Scheiße, Judith, ihre.
Genau diesen Leuten haben wir diese Situation zu verdanken."

"Glaubst
du etwa, Kollegin, daß ich das nicht wüßte? Ja,
stimmt! Recht haste! Ich bin selber dran schuld. Schön. Gut.
Einverstanden. Aber eins sag ich dir,
Genossin, ihr
habt’s ja auch nicht verhindert!"

Die
Tür wird aufgeschleudert, und eine etwas kleinere, dunkehaarige
Frau wird so hart hereingeschubst, daß sie zu Boden fällt.
Richterin Henkel und ich helfen ihr auf die Füße. Das ist
Rogelia! Rogelia kenne ich seit meinen Studienjahren. Wir haben
gemeinsam promoviert. Sie ist so ziemlich meine allerbeste Freundin.
Seit ein paar Jahren war sie Professorin für Versicherungs- und
Völkerrecht. Heute hat sie zwei blaue Augen und eine böse
Nasenblutung.

"Mensch,
Rogelia!", ich umarme sie, "wie siehst du denn aus?"

"Ach
das? Bloß eine kleine Debatte im Streifenwagen mit den beiden
Affen, die mich hierher verfrachtet haben."

"Eine
Debatte?"

"Ja.
Eine Debatte. Ich hab die Auffassung vertreten, je größer
die Knarre, desto kleiner der Schwanz. Die waren nicht überzeugt,
und haben erwidert: Je härter die Faust, desto tiefer die
Schädeldelle."

Ich
lache laut, und zwar zum erstenmal seit ich von den Bullen geweckt
wurde. Das tut gut. Rogelia läßt sich nicht verarschen.
Nicht einmal unter diesen Umständen.

"Das
sieht nun wirklich böse aus," pflichtet mir Judith bei.

"Ach,
was! Weicheier waren das. Rein gar nichts im Vergleich zu dem, was
ich damals in Seattle davongetragen hab."

Während
Judith ein paar Taschentücher besorgt, bedenkt Rogelia die Runde
mit einem schiefen Grinsen. "Mensch, sind wir aber ein trister
Verein!"

Hätte
man mich gefragt, hätte ich vermutlich die neuen Zustände
als
gewöhnungsbedürftig bezeichnet.
Wenn ich es mir überlege, stimmt das aber nicht ganz. In einer
wichtigen Hinsicht haben wir uns bereits daran gewöhnt. Gestern
hätten wir noch "Frau Doktor", "Frau Kollegin",
"Frau Staatsanwältin", "Frau Vorsitzende",
"Frau Rechtsanwältin" oder so ähnlich geheißen.
Heute lassen wir uns mit dem Vornamen anreden. Wir duzen uns. Sogar
von diesen Scheißbullen lassen wir uns duzen. Die
professionelle Distanz ist auf einmal verschwunden. Einfach so. Ohne
jeglichen Widerstand. Als ob es sie gar nicht gegeben hätte. Ich
empfinde es sogar als normal, die Richterin der 1. Strafkammer Judith
Henkel einfach mit
Judith anzureden.
Hier gibt es keine Staatsanwältinnen, keine Rechtsanwältinnen,
keine Richterinnen, keine Patentanwältinnen, keine Kolleginnen
mehr. Wir sind nur ein Haufen Weiber ohne Titel, ohne Beruf, ohne
Stand, ohne Amt. Und wir benehmen uns schon entsprechend.

Ob
sich das verallgemeinern wird? Werden wir diese Entmündigung,
diese Bevormundung, diese Gehorsamspflicht, diese Unterordnung, diese
neue "Schweigepflicht", diese Rechtlosigkeit auch einfach
so als normal gewordene Gegebenheiten akzeptieren und uns ihnen
anpassen? Werden wir diese neue Ordnung verinnerlichen? Ich fürchte,
daß das gut möglich ist.

Deshalb
freut es mich maßlos, daß sich wenigstens Rogelia nicht
geändert hat.

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I: Die Stunde Null: 4 Kapitel

Teil I: Die Stunde Null, 3. Kapitel

"Das
wird nichts."

"Ich
kann mich doch anderweitig vertreten lassen, oder? Sie könnten
vielleicht einen Kollegen empfehlen…"

"Jeder
Kollege wird Ihnen dasselbe sagen. Das wird nichts."

"Das
ist doch keine Antwort!"

"Ist
Ihnen nicht klar, in was für eine Lage sie mich versetzen, nur
indem Sie mein Büro betreten? Verstehen Sie etwa nicht, was das
bedeutet?"

"Aber…Ich
will nur wissen, ob…"

Ich
weiß, was damit gemeint ist. "Die Antwort lautet ja."

"Aber
Sie wissen gar nicht, was ich Sie fragen wollte…"


 

Continue reading

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I: Die Stunde Null, 3. Kapitel

Teil I: Die Stunde Null, 2. Kapitel

"Ich
dürfte noch dreißig Minuten Zeit haben! Ich muß doch
nur noch diesen letzten Übergabebericht zu Ende schreiben!"

Der
schrille Ton ist keine Absicht. Ich wollte mich bis zum allerletzten
Augenblick beherrschen. Sachlich und professionell bleiben. Kann ich
aber nicht. Der Abschied naht. Ich schreite unweigerlich dem Ende
meiner Karriere entgegen. Ich komme mir vor, als ob ich im Sterben
läge. Ich weiß, daß es nicht mehr lange dauert. Ich
weiß, daß mit allem, das ich mein Leben nannte, bald
Schluß ist. Ich stehe wehrlos vor dem Unerbittlichen, dem
Unbekannten.

"Frau
Dr. Olivetti?"

Den
beiden bewaffneten Herren, die mich hierher begleitet haben, gehört
die Stimme auf keinen Fall. Das ist Julia.

Continue reading

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I: Die Stunde Null, 2. Kapitel

Teil I: Die Stunde Null, 1. Kapitel

Irgendwann
ertappe ich mich dabei, meine Zulassungsurkunde verzweifelt
anzustarren.

So
wie’s jetzt steht, sieht das Teil ziemlich alt aus.

Wie
auch ich.

Ich
sehe auch verdammt alt aus.

Ich
darf mich jetzt nicht ablenken lassen. Nur eine Stunde Zeit habe ich
noch. Eine Stunde. Ich sehe mich in meinem…
ehemaligen…Büro
um. Irgendwie kann ich dieses Adjektiv nicht einmal innerlich
aussprechen.

Ehemalig.

Ehemals.

Ehe-
und Personenstandsgesetz

Jetzt
nicht, verdammt!
Eine Stunde
noch. Keine Sekunde mehr. Die Kerle nehmen’s haargenau.

Die
Aktenschränke sind längst abgeschleppt worden. Meine
Handakten habe ich zur Übergabe in Kartons verpackt. Bis auf
diejenige, die jetzt vor mir liegt. Ich mache den Ordner wieder auf,
und bemühe mich, endlich zur Sache zu kommen. Ich muß
diese Handakte – wie Hunderte andere – auf ihre Vollständigkeit
überprüfen, einen Übergabebericht verfassen, und
versiegeln.

Irgendwie
paßt es schon, daß ich mich zum Schluß gerade
dieser Akte zuwende. Die Mandantin werde ich
Julia H.
nennen. Mag meine Zulassung auch
erloschen sein – meine standesrechtliche Verschwiegenheitspflicht
darf ich nicht vergessen. Stand und Recht sind mir aberkannt worden.
Die Pflicht ist für mich jedoch nach wie vor verbindlich. Sie
ist so ziemlich das einzige, was mir von diesem Leben übrigbleibt.
Auch wenn sie mir alles andere nehmen – und sie sind schon vollauf
damit beschäftigt – werde ich mich meiner Pflichten stets
besinnen. Und sei es nur aus Trotz.

Noch
ein Blick auf die Urkundenwand. Zulassungsurkunde. Magistra.
Doktortitel. Auf jeder Urkunde steht in brauner Tinte gestempelt:
ERLOSCHEN gem. EPsG.

Sodann
wende ich mich wieder dem Bildschirm zu, um meine allerletzte
Amtshandlung als unabhängiges Organ der Rechtspflege hinter mich
zu bringen.

Übergabebericht


Mandantin:
Julia H.

Geburtsdatum:
03.11.75

Personenstand:
Ledig

Aktenbestand: 1
Ordner, 500 Seiten

Schwebende
Verfahren:

Unterhaltssache
./. Martin F. Az.: FG II 2025 6210

Kunstfehlersache
./. 25. BfSa Az.: BG IV 2023 99125

Vor
rund 5 Jahren wurde ich von Fr. H. beauftragt, sie in dem
Scheidungsverfahren gegen ihren damaligen Ehegatten Martin F. zu
vertreten.

Martin
heißt er natürlich nicht. Hier sollen nur die Schuldigen
namentlich erwähnt werden. Der ist zwar auch einer, aber sein
Name würde es jedem Interessierten ermöglichen, meine
ehemalige Mandantin zu identifizieren. Das darf auf gar keinen Fall
geschehen. Als sie zum erstenmal meine kleine Kanzlei in der
Stadtmitte betrat, war sie gerade erst aus dem Bezirkskrankenhaus
entlassen worden. Sie konnte mir kaum in die Augen schauen. Ihrem
Anblick war schon abzulesen, weshalb sie an dem Tag zu mir gekommen
war. Als ich sie bat, die Sonnenbrille abzunehmen, sah ich zwei
geschwollene, dunkelblau geschlagene Augen. Ihr linker Arm steckte im
Gips. Ein ganzes Jahr dauerte es, bis ich sie endlich von diesem
Soziopathen befreien konnte. Schadenersatz und einen großzügigen
Unterhalt sollte sie auch von ihm bekommen. Hat sie aber nicht.

Die
Ehe- und Personenstandsgesetzesnovelle durfte ich eigentlich nur
flüchtig durchblättern. In Wirklichkeit hätte ich sie
gar nicht lesen dürfen, aber ich habe so meine Beziehungen. Was
stand da noch zum Thema Ehescheidungen? Ach ja,

Die
Ehe ist nur durch den Tod eines Ehegatten zu scheiden. Alle vor dem
Inkrafttreten dieses Gesetzes rechtskräftig gewordenen
Scheidungen sind nichtig. Schwebende Scheidungsverfahren sind als
gegenstandslos zu verwerfen.

Welcher
Paragraph war das denn noch? Der erste, glaube ich. Ob sie auch schon
Bescheid weiß? Ob
er schon
Bescheid weiß? Daran will ich gar nicht erst denken.

Vergebens.
Fünf Jahre Arbeit sind einfach so gelöscht worden. Warum
überhaupt einen Übergabebericht verfassen? Es gibt gar
nichts zu übergeben. Die Scheidung ist erloschen. Damit ist auch
die Unterhaltssache gegenstandslos. Der Kunstfehlerprozeß gegen
den Rat für Schwangerschaftsabbrüche des 25. Bezirks ist
wohl auch kein Thema mehr. Dafür haben die Herren auch gesorgt.
Da die Scheidung nichtig ist, ist sie verheiratet. Da sie verheiratet
ist, gehen ihre Rechte auf Martin über. Im Klartext: Nur mit
seiner Einwilligung darf sie einen Vertrag schließen. Über
ihr Vermögen darf nur er verfügen. Im eigenen Namen klagen
darf sie erst recht nicht. Geht nicht mehr ohne die ausdrückliche
Einwilligung des Ehemanns. In ihrem Fall heißt das: Geht nicht.

Soviel
zum Thema Ehe. Selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, wäre
die Sache auch nicht anders. Nicht umsonst heißt es
Gesetz
zur Neuregelung des Ehe- und Personenstandsrechts.
Auch
den Abschnitt zum Personenstandsrecht konnte ich mir kurz anschauen.

Für
die Ledige wird ein Vormund bestellt. Zum Vormunde bestellt wird in
der Regel der nächste männliche Anverwandte in gerader
Linie. Sollten keine männlichen Anverwandten in gerader Linie
vorhanden sein, kann das Vormundschaftsgericht jeden männlichen
Staatsangehörigen, der das 30. Lebensjahr vollendet hat, und der
dem Gericht für das Vormundsamt geeignet erscheint, zum Vormunde
bestellen. Die Rechtsstellung der Witwen bleibt hiervon unberührt.

Das
gilt mir.

Es
klopft. Auch das gilt mir.

Posted in Allgemein | Comments Off on Teil I: Die Stunde Null, 1. Kapitel