Teil I: Die Stunde Null, 3. Kapitel

"Das
wird nichts."

"Ich
kann mich doch anderweitig vertreten lassen, oder? Sie könnten
vielleicht einen Kollegen empfehlen…"

"Jeder
Kollege wird Ihnen dasselbe sagen. Das wird nichts."

"Das
ist doch keine Antwort!"

"Ist
Ihnen nicht klar, in was für eine Lage sie mich versetzen, nur
indem Sie mein Büro betreten? Verstehen Sie etwa nicht, was das
bedeutet?"

"Aber…Ich
will nur wissen, ob…"

Ich
weiß, was damit gemeint ist. "Die Antwort lautet ja."

"Aber
Sie wissen gar nicht, was ich Sie fragen wollte…"


 

 

"Doch,
weiß ich."

"Also,
meine Scheidung…"

"…ist
nichtig."

"Was
heißt denn das?
Was soll das denn heißen!?"

"Daß
Sie gar nicht geschieden sind. Die Ehe besteht noch."

Ich
sehe den blanken Terror in ihren Augen.
Das kann doch nicht
wahr sein,
sagt mir ihr Blick,
sagen Sie doch bitte, daß es nicht wahr ist!

Aber
das kann ich nicht. Da ich schon mal das Beratungsverbot verletzt
habe, will ich wenigstens der Pflicht nachkommen, indem ich sie
umfassend aufkläre.

"Waren
Sie heute schon einkaufen?"

"Was?
Einkaufen? Ja, war ich schon. Wieso?"

"Ist
da was Außergewöhnliches passiert?"

"Ich
wollte nur ein paar Kleinigkeiten kaufen, aber meine Karte ist
abgelehnt worden. Dabei hab ich eigentlich über zehntausend
Dollar auf dem Konto. Aber was tut das jetzt zur Sache?"

"Ihre
Karte ist ungültig…"

"Was…"

"…weil
Ihr Vermögen heute per Gesetz auf Martin übertragen worden
ist. Er ist nicht nur Ihr Mann, sondern auch noch Ihr gesetzlicher
Vertreter. "

"Gesetzlicher
Vertreter?"

Ich
weiß nicht mehr, ob sie mich überhaupt hört. Ich
erkläre ihr so gut ich kann die neue Rechtslage. Sie sagt kein
Wort mehr. Schreit nicht. Sie kann nur noch schluchzen. Sie braucht
keine

ehemals

promovierte
Juristin, um zu begreifen, was das heißt. Sie weiß es
sogar besser als ich.

"Das
heißt, nicht nur meine Sachen, mein Geld sind sein Eigentum.
Auch ich, ich bin sein Eigentum, nicht wahr?" fragt sie, ehe sie
wieder ins Schluchzen stürzt. Ich lege ihr meine Hand auf den
Arm, um sie zu trösten. Aber wie kann ich sie trösten? Ihr
sagen, daß es eigentlich
Mündel heißt?
Daß er zwar berechtigt ist, sie zu "züchtigen",
sie aber nicht vorsätzlich umbringen darf? Ihr sagen, daß
mich dasselbe Schicksal erwartet? Schöner Trost!

Ehe
ich überhaupt antworten kann, verfalle auch ich der
Schluchzerei. Scheiße. Genau das wollte ich vermeiden. Denen
paßt das nur zu gut. Meinen trostlos weinenden, schluchzenden,
Tränen vergießenden Anblick wollte ich ihnen auf jeden
Fall verweigern. Daß ich, Volljuristin, Verteidigerin der
Menschenrechte, Vertreterin der Partei vor Geheule und Geschluchze
nicht mal reden kann. Sie werden mich auslachen:
Typisch
Frau.

Langsam
reißt sich Julia zusammen. "Da wir schon mal dabei sind,"
sagt sie, während sie einen Umschlag aus der Handtasche angelt,
"könnten Sie mir vielleicht mal erklären, was das
ist?"

Sie
reicht ihn mir, und ich entnehme dem ein Blatt Behördenpapier.
Eine Ladung.

"So
eine Ladung hab ich auch bekommen", sage ich ihr. "Das
heißt, daß Sie vor Gericht müssen, vors
Vormundschaftsgericht."

"Damit
sie mich dem Wichser ans Messer liefern können, stimmt’s?"

"So
ungefähr. Ich muß heute hin. Hier steht, daß Ihr
Termin erst nächsten Mittwoch ist. Sie haben also Zeit."

"Das
kann doch nicht wahr sein! Das können die doch nicht, oder?"

Am
liebsten möchte ich ihr sagen:
Das werden wir schon
regeln. Die Feststellungsklage werde ich morgen einreichen, und ich
werde auch eine einstweilige Verfügung erwirken, damit Sie
wieder Zugang zu Ihrem Geld haben. Wird gar nicht so schwer sein. Ein
klarer Verfassungsbruch ist das. Wir werden’s ihnen schon zeigen.
Ich
habe die Klageschrift bereits verfasst. Nicht auf Papier, versteht
sich, aber ich weiß ganz genau, wie sie lautet. Ist aber alles
nur Wunschdenkerei. Wenn ich jetzt vor Gericht plädiere, werde
ich ausgelacht. Ich darf nicht mal als Zeugin vor Gericht. Meine
Aussage ist nichts mehr wert. Ich kann nicht klagen. Und doch habe
ich jeden Grund dazu.

"Also,
die Rechtslage hat sich geändert."

"Was
soll das heißen. Reden Sie doch mal Klartext!"

"Mensch,
glauben Sie etwa, daß das für mich leicht ist? Glauben Sie
etwa, daß Sie allein davon betroffen sind?
Gucken Sie
sich doch mal die Kartons da an! Das ist mein Leben, verdammt! Sie
haben mir alles genommen!"
Und
damit gerate ich wieder ins Schluchzen.

"Es
tut mir leid. Sie haben schon recht."

"Nein,
habe ich nicht. Und Sie auch nicht. Nicht mehr." Mit letzter
Kraft kriege ich mich wieder ein. Sie braucht meine Hilfe.

Ich
atme tief ein. "Geht schon. Also, der Oberste Gerichtshof hat
vor ein paar Monaten eine Entscheidung gefällt."

"Was
für eine Entscheidung? Ich habe nichts davon gehört."

"Wundert
mich auch nicht. In den Medien kam sie kaum vor, und wenn schon, dann
nur ganz oberflächlich. Kurzgefaßt besagt diese
Entscheidung, daß die Gleichberechtigungsklausel der Verfassung
nicht in der Absicht verabschiedet würde, irgendjemanden außer
den Ex-Sklaven zu begünstigen, und daß sie auch
entsprechend auszulegen sei."

"Ich
verstehe kein Wort."

"Sorry.
Das Gericht hat gesagt, daß die Gleichberechtigung der Frau in
der Verfassung nirgends gewährleistet ist. Die in der Verfassung
garantierten Rechte gelten also nur für Männer, sofern
nicht ausdrücklich aus der jeweiligen Bestimmung hervorgeht, daß
auch Frauen sie ausüben dürfen." Allmählich
versteht sie, worum es hier geht. "In der ganzen Verfassung gibt
es aber nur eine Bestimmung, die Frauen ausdrücklich begünstigt:
den 19. Zusatzartikel. Kennen Sie den?"

"Frauenstimmrecht
oder so?"

"Genau.
Somit darf alles wieder so sein, wie’s früher einmal war."

"Diese
traditionellen Werte, die alle Politiker befürworten."

"So.
Der Gesetzgeber hat sich gleich rangemacht an die Arbeit. Auch das
kam in der Berichterstattung kaum vor. Aber ich hatte Gelegenheit,
eine Kopie der wichtigsten Bestimmungen zu lesen, was ich gar nicht
hätte tun dürfen, verstehen Sie. Denn da heißt es,
daß Frauen von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Wer als
Anwältin, Ärztin, Wirtschaftsprüferin, was weiß
ich, zugelassen war, sollte mit dem Inkrafttreten des Gesetzes ihre
Zulassung verlieren."

"Und
das Gesetz ist wohl heute in Kraft getreten."

"Um
Punkt 0.00 Uhr," bestätige ich. "Ein Lese- und
Schreibverbot für Frauen ist für die zweite Phase
vorgesehen."

"Lese-
und Schreibverbot? Was soll das schon wieder heißen?"

"Sie
haben sich wohl gedacht, daß wir uns leichter in Schach halten
lassen, wenn wir quasi analphabet sind. Und in ein paar Generationen
kann dann auch das Quasi wegfallen."

"Aber…Warum
unternimmt keiner was dagegen?"

Ich
schaue auf meine Armbanduhr. Ich habe noch eine Viertelstunde Zeit.

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